
Seinen Worten lauschen auch die beiden Freundinnen Coco (Meret Becker) und Patti (Jeanette Hain). Erstere ist eine kontrollsüchtige Zahnärztin, die ausgerechnet den chaotischen und auch noch alkoholkranken Immobilienmakler Carlos (notorischer Schwerenöter: Thomas Heinze) heiraten und dabei nichts dem Zufall überlassen will. Und letztere eine eher minder erfolgreiche Malerin, die in Cocos Arztpraxis höchst anzügliche Vagina-Motive ausstellt in der Hoffnung, zahlungskräftige Kunden unter den Klienten ihrer Freundin zu finden.
„Carlos raucht und trinkt nicht mehr, das find‘ ich ganz toll“ schwärmt Frau Doktor, kann aber über seinen Totenkopf-Ehering „bis dass der Tod uns scheidet“ nicht wirklich lachen. Je näher der große Tag heranrückt, je nervöser wird Coco. Die an einem Morgen sogar ihrer Sprechstundenhilfe Vera (Alina Levshin) kündigt – fristlos. Weil der Russlanddeutschen während ihrer Probezeit immer neue Ausreden eingefallen sind für Unpünktlichkeiten oder Flüchtigkeitsfehler. Dabei hat sie keinen Ersatz, bevor sie ihre Mutter Andrea (Elisabeth Trissenaar) nicht beknien kann, ihr noch ein allerletztes Mal aus der Patsche zu helfen.
Apropos Patsche. Vera sitzt in einer solchen nicht nur, weil sie jetzt ohne jedes Einkommen ist und ihr auch noch die Fahrradkette abspringt, wobei es dem smarten Andi ein Vergnügen ist, ihr zu helfen in der ersten von sicherlich einem halben Dutzend zufälliger Begegnungen, die sich wie ein Roter Faden durch Vanessa Jopps semi-improvisierte Komödie „Lügen und andere Wahrheiten“, in deren Buch bei Drehbeginn noch kein einziger Dialog stand, zieht. Sondern weil sich bei ihr daheim ihr Bruder Michail (Ilja Pletner) eingenistet hat in der irrigen Auffassung, die Hansestadt sei das Paradies auf Erden, wo goldene Äpfel an den Bäumen wachsen. 150.000 Rubel soll Vera beschaffen für die Raucherbein-Operation des Vaters in Russland…
Carlos lässt sich beim feucht-fröhlichen Junggesellenabschied entgegen aller Beteuerungen nicht nur volllaufen, was ihn den Führerschein kostet, sondern auch die Sau ‚raus, sodass die Rechnung des Sauna-Clubs in Höhe von 3.800 Euro sein Kreditlimit überstrapaziert. Von der Geduld Cocos, die natürlich irgendwann doch dahinterkommt, ganz zu schweigen. Schließlich will die Goldschmiedin (Steffi Heinken) Bares sehen für die Trauringe, als die Kreditkarten-Abbuchung platzt. Und dann versucht auch noch Cocos „Ex“ und Nachbarin Cindy (Lilith Stangenberg) sich in der Badewanne umzubringen…
Alles reichlich viel auf einmal, was uns die preisgekrönte Filmemacherin Vanessa Jopp („Vergiss Amerika“, „Engel und Joe“, „Meine schöne Bescherung“) auftischt – und ihren sechs Protagonisten-Paaren zumutet. „Lügen und andere Wahrheiten“, Anfang Juli 2014 beim Filmfest in München uraufgeführt, kommt binnen gut einhundert unterhaltsamer Minuten trotz einer bemerkenswerten Besetzung nicht über die recht vorhersehbare Story und die übliche Kammerspiel-Ästhetik (Kamera: Henner Besuch) der deutschen TV-Koproduktionen hinaus. Weil Vanessa Jopp alles so genau konstruiert und durchorganisiert hat. Was den Film, den Arte am 11. März 2016 um 20.15 Uhr als Free-TV-Premiere zeigt, auszeichnet ist das Wissen um die improvisierten Dialoge der Darsteller, welche sich jeden Drehtag neu der Aufgabe stellten, aus dem eigenen Erfahrungsschatz möglichst Authentisches beizusteuern.