Ali, ein türkischer Kaufmann aus Smyrna, kommt in Geschäften nach Venedig. Er besucht die Oper und überlegt, daß diese Art von Theater in seiner Heimat Glück machen könnte, wo es ja mehr Ausländer als Einheimische gibt. Er will diese Spekulation versuchen und trägt dem italienischen Theateragenten auf, ihm das für seinen Plan erforderliche Personal zu beschaffen. Aber welche Verlegenheit für den Türken! Er engagiert drei Sängerinnen, von denen jede auf die ersten Rollen Anspruch erhebt. Die Sänger sind nicht nachgiebiger. Der Tag der Abreise ist festgesetzt, und alle sind versammelt, um sich einzuschiffen. Man erwartet den Unternehmer: an dessen Stelle erscheint ein Mann mit einem Beutel voll Geld und der Nachricht, daß Ali zu Schiff nach Smyrna ist. Und jedem wurde von seiten des freigiebigen Muselmannes statt der verdienten Rüge ein volles Vierteljahr Gage ausbezahlt. Dieses Stück war eine sehr umfassende und tiefgreifende Kritik an der Unverschämtheit der Schauspieler und Schauspielerinnen und an der Indolenz der Theaterdirektoren; es hatte den allergrößten Erfolg.
Carlo Goldoni: „Meine Helden sind Menschen“ (Memoiren), Frankfurt/Main 1987
Auf der Suche nach einem Theaterstück, dass den Folkwang-Schauspielstudenten im dritten Jahr in etwa gleichgewichtig Gelegenheit gibt, sich für erste Engagements zu empfehlen, sind die Bochumer bei Carlo Goldonis Komödie „L’impresario delle smirne“, 1759 im venezianischen Teatro San Luca in der Versfassung und 1761 dortselbst zum Karneval in der Prosafassung uraufgeführt, fündig geworden.
Auch für Marco Massafra, dessen neunzigminütige, am Premierenabend des 12. Februar 2016 heftig umjubelte Inszenierung auf der ersten deutschen Übersetzung von Justus Heinrich Saal aus dem Jahr 1777 fußt in der Bearbeitung des Peymannschen Burgtheater-Dramaturgen-Duos Jutta Ferbers und Hermann Beil, ist dieser Fünfakter eine Herausforderung besonderer Art: nach seinen drei herausragenden, weil mutig-zupackenden Inszenierungen am Rottstr5Theater, 2013 „Caligula“ von Albert Camus, 2014 „Warten auf Godot“ von Samuel Beckett und 2015 „Disco Pigs“ von Enda Walsh, führt das Ensemblemitglied erstmals Regie an „seinem“ Schauspielhaus.
Mit reichlich Theater auf dem Theater in der intimen Kellerbühne an der Bochumer „Kö“, die Kerstin Feuerhelm mit zwei seitlichen Sitzgruppen und einem Tresen in der Mitte nur spärlich möbliert hat, um dem bestens aufgelegten neunköpfigen Ensemble (die Rollen des Opernagenten Nibio und des Theatermalers Fabrizio sind gestrichen) viel Raum zum Ausleben geradezu unbändiger Spielfreude zu geben. An besagtem und später wie von Zauberhand bewegtem Tresen, der Rezeption seines Hotels, lehnt der gelangweilte Beltrame (nicht nur optischer Mittelpunkt des turbulenten Geschehens: Thomas Kaschel, Rottstr5-erfahrener Recklinghäuser des Jahrgangs 1990), als zu den Klängen des Welthits „Volare“ von Domenico Modugnos Graf Lasca (Nils Kretschmer) die Lobby betritt.
Der als Kunstfreund bekannte, freilich nur in Worten mäzenatische Adlige erkundigt sich nach den neu angekommenen Gästen und steht alsbald dem eitlen, ihm bereits einschlägig bekannten Falsettisten Carluccio (Lorenz Nolting) gegenüber. Von dem Lasca zwar nicht viel hält, den er aber dennoch mit der Nachricht vertraut macht, ein reicher türkischer Geschäftsmann wolle eine Oper gründen und er sei mit der Zusammenstellung der Truppe beauftragt. Kaum ist der Graf gegangen, plustert sich Carluccio mächtig auf, scheitert aber an der stoischen Gelassenheit des Hoteliers: Dienstleistungen welcher Art auch immer gibt’s nur gegen Bares.
„Du Arschloch“ lässt daraufhin der Sänger die Maske der Vornehmheit fallen – und erhält folgende Antwort des schlagfertigen Beltrame: „Was fällt Ihnen ein, mich zu duzen?“ Das steht naturgemäß so nicht bei Goldoni, passt aber wie so viele sprachliche Pointierungen und szenische Petitessen des ganz offenbar von der Macht der Musik (etwa zur Versöhnung des genervten Grafen) überzeugten Marco Massafra zu einer texttreuen Inszenierung, die dennoch die eigene Handschrift des Regisseurs nicht verleugnet. Schwatzen oder platzen (frei nach „Skandal in Chioggia“): die so schöne wie kluge, aber auch verschlagene Lucrezia (Anja Kunzmann), die mit vollem körperlichen Einsatz kämpfende divenhafte Tognina (Paulina Alpen) und die so junge wie reizende Annina (Amelie Barth) liefern sich ein veritables Zickenduell um das „erste Fach“, das Primadonna-Privileg.
Das sich nach erster allgemeiner Panik („Der Türke kommt!“) fortsetzt, als Graf Lasca das Sopranisten-Trio samt Heldentenor Pasqualino (Rottstr5-erfahrener Beau: Carl Bruchhäuser) und Schriftsteller Maccario (wundervolle Intellektuellen-Parodie in Frederike Marsha Coors Pollunder: Michael Wischniowski) dem reichen, aber völlig ahnungslosen und eigentlich nur an schönen Frauen interessierten Türken Ali (der erfahrene Kölner „Rebell“ David Vormweg) vorstellt. Der alsbald die Pappen dicke hat von intriganten Sängern, neunmalklugen Strategen und dem wahnsinnigen Personalaufwand eines Opernbetriebes, zu dem selbstredend auch Claqueure (wer sonst als das Bochumer Publikum im Theater Unten) gehören.
Am Ende macht nicht nur Ali sich klammheimlich von dannen, sondern auch Beltrame. Aber das ist jetzt schon beinahe zu viel verraten…