
„Mensch Paule, flieg, flieg ins Ziel“: Historische Schwarz-Weiß-Aufnahmen aus dem Berliner Olympiastadion im Prolog und die daruntergelegte aufgeregte Stimme eines Rundfunkreporters geben Kilian Riedhofs erstem Kino-Spielfilm „Sein letztes Rennen“ zu Beginn den Anschein eines Biopic. In der Tat steckt, wie der 1971 im hessischen Seeheim-Jugenheim geborene Absolvent der Universität Hamburg im Presseheft bekundet, hinter seiner mitreißenden Story die wahre Geschichte, nach der einem depressiven Mann im Seniorenalter von seiner Frau buchstäblich so lange Beine gemacht wurden, bis er tatsächlich einen Marathon gelaufen – und damit in die Zeitung gekommen ist.
Der Hark Bohm-Schüler Kilian Riedhof, dem 2011 mit „Homevideo“, in dem der Herner Wotan Wilke Möhring den Vater eines Jungen spielt, dessen privates Video versehentlich Mitschülern in die Hände fällt, was weitreichende Folgen zeitigt, ein vielfach international ausgezeichneter Fernsehfilm gelang, überträgt die Zeitungsnotiz auf eine einstige Marathonlegende namens Paul Averhoff (in Höchstform: der 78-jährige Dieter Hallervorden), der 1956 bei den Olympischen Spielen in Melbourne Gold holte. Und immer noch recht fit ist – im Gegensatz zu seiner Gattin Margot (nicht minder großartig: Tatja Seibt). Während er im Garten in halsbrecherischer Weise Äpfel vom Baum pflückt, tanzt sie drinnen selbstvergessen zum Piaf-Chanson „La mer“ – und stürzt.
Nun geht nichts mehr ohne fremde Hilfe, aber die beiden können sich in den eigenen vier Wänden mit keiner Pflegerin anfreunden. Tochter Birgit (das reine Nervenbündel: Heike Makatsch), die als Stewardess dauernd in der Welt herumfliegt, kann sich nicht kümmern – und besorgt ein exklusives, idyllisch im Grünen gelegenes Altenheim. Wo Oberschwester Rita (Katrin Sass) mit strenger Hand regiert und die Betreuerin, eine gewisse Frau Müller (Katharina Lorenz), die Bewohner wie kleine Kinder behandelt. Fromme Lieder singen, Kastanienmännchen basteln? Margot könnte sich arrangieren, hat schnell Anschluss gefunden. Aber Paul fällt die Decke auf den Kopf, zumal ihm der pedantisch-verkniffene Rechthaber von Rudolf (Paraderolle für Defa-Oldie Otto Mellies), der seine Obermufti-Position in Gefahr sieht, nachdem Fritzchen (Heinz W. Krückeberg) den Neuzugang als Sportstar geoutet hat, gehörig auf die Nerven geht. Allein der unkonventionelle Pfleger Tobias (Frederick Lau) lässt ‚mal Fünfe gerade sein…
Fritzchens alte Autogrammkarten von Paul machen die Runde unter den sogleich freudig erregten Heimbewohnern und Margot entfernt die Mottenkugeln aus den uralten Trainingsanzügen, damit Paul ‚mal wieder ein paar Runden drehen kann im schon herbstlichen Park. Schön langsam steigern – die Stoppuhr tuts noch. Wie Pauls Beine. Sodass der sich einem Duell mit Tobias über 15 Runden stellt. Was bei Rita, die keinen „Ausreißer“ aus der Gemeinschaft brauchen kann, auf keine Gegenliebe stößt. Zumal die Fangemeinde, zu der inzwischen sogar die übellaunige Frau Mordhorst gehört (Defa-Legende Annekathrin Bürger), auch nicht jünger wird und Frau Labinski (Maria Mägdefrau) sich beim Anfeuern von der Parkbank aus eine Lungenentzündung zugezogen hat…
Aber es hilft nichts, der nächste Berlin-Marathon rückt näher – und Pauls Ehrgeiz, daran teilzunehmen, weckt auch das Lebensgefühl der anderen Heimbewohner: Es muss doch noch etwas anderes geben als Kastanienmännchen und Gruppensingen. Selbst ein kleiner Kreislaufkollaps – er hat sich doch etwas übernommen – kann Paul nicht bremsen. Stattdessen bereitet er sich auf dem Zimmer lieber Nudeln zu, weil er ordentlich Kohlenhydrate braucht. Dabei setzt er die Gardinen in Brand – und bringt die Heimleitung endgültig zum Kochen. Paul sei depressiv und solle sich vom Psychiater Dr. Groenwoldt (Jörg Hartmann) untersuchen lassen. Dort geht es so handfest zu, dass die Averhoffs die Koffer packen – und bei Tochter Birgit unterkommen. Nur vorübergehend, versteht sich.
Doch der wahre Niederschlag kommt erst noch: Margot, die schon seit vielen Jahren mit der Diagnose Krebs lebt, bricht, als sie im Park wieder einmal als Zeitnehmerin für ihren Gatten fungiert, zusammen. Der Klinikarzt macht ihr keine Hoffnungen. Als sich ihr Zustand vorübergehend verbessert, macht Paul mit ihr einen Ausflug ins Olympiastadion und Margot nimmt ihm dort das Versprechen ab, dass er sein letztes Rennen auch ohne sie laufen wird. Am nächsten Morgen ist Margot eingeschlafen – und Paul muss zurück ins Heim…
Seien wir ‚mal ehrlich: Hätten wir Dieter Hallervorden, dieser nicht mehr ganz frischen TV-Ulknudel, überhaupt ein Kino-Comeback zugetraut nach den beiden „Didi“-Schmonzetten in den 80er Jahren – und dann gleich ein solch‘ fulminantes? Dass der 1935 im anhaltinischen Dessau geborene Romanistik-, Publizistik- und Theaterwissenschafts-Student an der Ost-Berliner Humboldt-Universität als 22-Jähriger aus dem DDR-Gefängnis ‚rübermachte und in West-Berlin bei Marlis Ludwig Schauspielunterricht genommen hat, können nur Eingeweihte wissen. Und von seiner Frühzeit als Schauspieler bei der einst renommierten West-Berliner „Tribüne“ ist selbst denen nicht bekannt.
Dass aber der Ober-Slapstick-Mufti der Fernsehnation („Abramakabra“, „Nonstop Nonsens“, „Die Didi-Show“, „Spottschau“) 1960 das West-Berliner Kabarett „Die Wühlmäuse“ gründete und es bis heute leitet, hätte sich schon eher herumsprechen können. Inzwischen hält Dieter Hallervorden auch das traditonsreiche Schlosspark-Theater in Steglitz, einst Zweitspielstätte des Schiller-Theaters, über Wasser – ab Herbst 2013 steht er im Zwei-Personen-Stück „Die Socken“ und in Neil Simons altherrenwitziger Boulevardkomödie „Sonny Boys“ selbst auf den Brettern im gutbürgerlich-vornehmen Süden der Hauptstadt.
Mit seinem emotionalen, durchaus radikal-offenen und in jeder Hinsicht fulminanten Auftritt in „Sein letztes Rennen“ könnte zur „Goldenen Kamera“, die er heuer für sein Lebenswerk erhielt, im kommenden Jahr auch die „Lola“ hinzukommen: Dieter Hallervorden präsentiert sich in voller Filmlänge von knapp zwei Stunden in absoluter Top-Form jenseits aller „Didi“-Klischees als Charakterdarsteller. Seine so hintergründig-humorvolle wie jederzeit glaubwürdig-ernsthafte, immer wieder auch sehr forsche Darstellung eines ehemaligen Champions, der es noch ‚mal wissen will und der schon weit vor dem sehr realistischen und überhaupt nicht kitschig-klattrigen Ende begreift, dass es wichtigere Dinge gibt im Leben als das Höher, Schneller, Weiter im Sport, ist bewegend.
Die Geschichte Paul Averhoffs berührt um so mehr, als sie, ein ganz erstaunlich reifes Debüt, von Kilian Riedhoff so warmherzig und mit liebevollem Verständnis für seine Figuren überhaupt erzählt wird. Man meint, Dieter Hallervorden die Strapazen seiner Figur ansehen zu können – und leidet förmlich mit ihm. Das ist klassische, auf der Bühne inzwischen weitgehend verpönte Identifikationsdramaturgie: Blut, Schweiß und Tränen. Neun Kilo hat der 78-jährige Berliner Theatermacher bei seiner monatelangen Vorbereitung abgespeckt, keinen Alkohol getrunken, drei Mal die Woche hat er im Fitness-Studio trainiert. Was Dieter Hallervorden, Vater eines 14-jährigen Sohnes aus zweiter Ehe, mit dem er segelt, surft und Tennis spielt, freilich nicht ganz so fremd gewesen ist: „Da ist nix mit Beine hochlegen und fernsehen!“