
In Letzterem sind die Bürgerstochter Luise (Friederike Becht) und der adlige Major Ferdinand von Walter (Nils Kreutinger) ein Liebespaar. Was ihre ehrgeizige Mutter (Anke Zillich) nicht ungerne sieht. Doch weder sein Vater, der Präsident von Walter (Felix Vörtler), noch der ihrige, der Stadtmusiker Miller (Bernd Rademacher), willigen in eine die Standesschranken negierende Verbindung ein. Luise widerstrebt zögernd dem Wunsch Ferdinands, gemeinsam zu fliehen.
Der Präsident verfolgt aus politischen Interessen das Ziel, seinen Sohn mit der Mätresse des Fürsten, Lady Milford (Kristina Peters), zu verheiraten. Zusammen mit seinem Sekretär Wurm (Florian Lange), der selbst ein Auge auf die schöne Millerin-Tochter geworfen hat, zettelt er eine Intrige an, um seinen Sohn eifersüchtig zu machen. Luises Eltern werden verhaftet und Luise selbst wird gezwungen, einen Liebesbrief an Hofmarschall von Kalb (Roland Riebeling) zu richten, der Ferdinand in die Hände gespielt wird. Luise ist nicht in der Lage, Letzterem gegenüber den heiligen Eid des Schweigens zu brechen. Erst das tödliche Gift entbindet sie und lässt die Liebenden wieder zueinander finden – im Doppel-Selbstmord.
Anselm Webers Inszenierung hat Zug, in ihr paart sich Tempo mit Esprit. Sie ist durchaus auch ironisch, aber niemals besserwisserisch und lässt Schillers bei der Lektüre bisweilen doch sehr altertümliche Sprache ganz heutig erscheinen. Was natürlich vor allem an den durch die Bank großartigen Schauspielern liegt bis hin zu Daniel Stock, der sich Schillers damals geradezu anarchisch-offene Kritik an den Fürstenhäusern, die ihre Landeskinder für den amerikanischen Bürgerkrieg verkaufen, um sich weiterhin ihren opulenten Lebensstil leisten zu können, als fürstlicher Kammerdiener zu eigen macht.
War Millers Bürgerstolz gegenüber den Zumutungen des adligen Präsidenten im ausgehenden 18. Jahrhundert noch revolutionär, so sind auch heute durchaus bürgerliche Tugenden wieder gefragt gegenüber den ja nicht minder skandalösen Zumutungen des völlig degenerierten Geld- und Polit-Adels, auch wenn der Begriff „bürgerlich“ als ein gestriger erscheinen mag. Anselm Weber bestreitet am Ende seiner ernsthaften, über 165 Minuten stets bannenden Inszenierung, dass Selbstmord eine Lösung im 21. Jahrhundert sein kann. Gut so!
Björn Gabriel zäumt am Dortmunder Hiltropwall das Pferd von hinten auf, indem er in seinem „Werther“ die Chronologie der Dreiecksgeschichte zwischen dem jungen genialischen Titelhelden (Sebastian Graf), seinem Objekt unbedingter Liebe, Lotte (Bettina Lieder), und ihrem Verlobten Albert (Ekkehard Freye) von seinem aufwühlenden, blutigen und mit reichlich Pathos aufgeladenen Ende her erzählt – in der betont altertümlich wirkenden Sprache des Sturm und Drang.
Und zwar in einer szenischen Adaption, die aus Goethes Briefroman kein Monodram wie sonst üblich macht, sondern die drei Protagonisten Dialoge miteinander führen lässt. Auf Augenhöhe, was schon in der Besetzung zum Ausdruck kommt: Ekkehard Freye ist zwar ein arrivierter Bürgerlicher, in einer Szene auch ein pedantischer Erbsenzähler, aber, so Gabriel, „keine Knallcharge wie in vielen anderen Inszenierungen.“ Sondern ein offener und verständnisvoller Charakter, der sich selbst nicht so wichtig nimmt, ein liebevoller und durchaus auch leidenschaftlicher Mann.
Jedenfalls eine ernsthafte Alternative für ein zwar bisweilen kindlich-verträumtes, dann aber doch ganz heutig-geerdetes Wesen wie Bettina Lieders Lotte, die sich keine Illusionen macht über eine gemeinsame Zukunft mit dem von Grund auf rebellischen Werther des in seiner eigenen Traumwelt lebenden Sebastian Graf.
Überhaupt bleibt Björn Gabriel dem Weimaraner hart auf den Fersen, auch wenn er, im übrigen so virtuos wie Meister Kay Voges, Hausherr der Volksbühne an der Thier-Galerie, auf Video-Einsatz setzt mit Live-Cam und vorproduzierten Sequenzen. Hier werden alle Register gezogen, um die Sinne zu wecken. Wobei Emotion einmal mehr mit Lautstärke und atemlosem körperlichem Aktionismus gleichgesetzt wird, Verzweiflung mit hysterischen Ausbrüchen.
„Lasst mich in Ruhe!“: Als Bettina Lieders Lotte das ganze Männlichkeitsgehabe zuviel wird, kommt ein ungläubiges „Was?“ gleichzeitig aus beider Herren Kehlen. Das hat Witz. Björn Gabriels Fassung aber hat nicht Witz – oder, besser: Mut – genug, um die Vorlage im Sinn einer selbstbewusst-emanzipierten jungen Frau von heute zu verändern. Nach hundert Minuten werden wir Zeugen eines Balletts dreier vereinzelter, verzweifelter, vereinsamter Menschen.