
Das Stück behandelt die historischen Vorgänge der März- und Apriltage 1933 in Deutschland. Diese Vorgänge sind nicht nur durch Tatsachen belegt, die man immer noch abstreiten könnte, sondern durch amtliche deutsche Dokumente, die eigentlich unantastbar sein sollten. Im allgemeinen hat der Dramatiker das Recht, mehr auf die menschliche Entwicklung zu sehen, als auf die historische Richtigkeit. Hier aber, bei Rassen, achte ich um so mehr auf eine exakte offizielle Dokumentierung als das tiefste Rätsel der Vorgänge in Deutschland ihre Offiziellität ist. Diese von Gesängen begleitete Verbrennung der Bücher, diese mittelalterliche Anprangerung von Liebespaaren verschiedener Konfessionen, diese militärische Besetzung kleiner jüdischer Geschäftsläden am 1. April 1933 es waren keine Überfälle Einzelner, in keiner Weise Ausschreitungen, wie sie bei Staatsstreichen und Systemwechseln unterlaufen können: es waren von höchster Regierungsstelle dirigierte Unternehmungen. Mit Stolz und offizieller Feierlichkeit wurden sie verkündet, mit offizieller Begeisterung wurden sie ausgeführt. In Deutschland, in einem der geistig fortgeschrittensten Länder Europas. Noch nie ist uns so schmerzlich bewußt geworden, daß Geistigkeit und Zivilisation nichts miteinander zu tun haben. In einer ungeheuren Erschrockenheit vor uns selbst müssen wir in unsere zivilisierte Gesellschaft hineinfragen wie in die frühesten Jahrtausende zurück: was ist der Mensch? Ich habe versucht, das, was Deutschland von seinen Deutschen will, mit aller erdenklichen Dokumentierung zu zeigen: gerade weil es zunächst nur auf das Zeigen ankam. Das unerläßliche Erklären werden spätere und stärkere Kräfte unternehmen müssen. Auch sie werden sich von keiner Zensur hindern lassen. Diese Zensur war immer wieder der zu überwindende Feind jeder Aufklärung. Sie unterdrückte, immer wieder vergeblich, alle Versuche, uns unsere Verirrungen durch die lebendige Darstellung bewußt zu machen, weil wir nur auf diesem Weg mit ihnen fertig werden.
Ferdinand Bruckner, 1934
Heinrich Karlanner (blonder junger Mann mit nackten Füßen und deutschem Kurzhaarschnitt: Nicolai Despot), Student der Medizin, sitzt im Gefängnis. Alle weiteren Figuren in Ferdinand Bruckners 1933 schon im Pariser Exil geschriebenen und bereits am 30. November desselben Jahres in Zürich uraufgeführten Stücks Die Rassen erscheinen ihm in der Rückerinnerung. Weshalb Manfred Karge, Autor der um ausladende Dialoge gekappten Spielfassung, Regisseur und Ausstatter der Neuinszenierung vom 11. November 2013 am Berliner Ensemble, den zellenartig engen schwarzen Guckkasten in der Nebenspielstätte Pavillon nur mit einer Pritsche und einem Hocker möbliert hat.
Während sich Karlanner tunlichst aus der Politik im allgemeinen und den studentischen Händeln an der Universität im speziellen heraushält, um zügig promovieren zu können bei Prof. Dr. Julius Horowitz, ist sein wie er selbst bereits früh vaterlos gewordener, nach Orientierung suchender Kommilitone Tessow (mit Nickelbrille in Schlips und Kragen, aber ohne Krawatte: Stephan Schäfer) in die NSDAP eingetreten und spricht in seiner Gegenwart ganz unverblümt von Herrenrasse und vom Sumpf der Erbmischung. Was auf Helene Marx (Marina Senckel) zielt, Karlanners jüdische Freundin aus gutem Hause. Sie hat Heinrich aus dem Sumpf der Bummelei und des übermäßigen Alkoholkonsums herausgeholt, seinen Ehrgeiz geweckt.
Jetzt sucht Helene eine gemeinsame Wohnung für die Zeit nach dem scheinbar ungefährdeten Examen. Mit dem es jedoch nicht so schnell wie geplant klappen könnte, warnt der jüdische Mitstudent Nathan Siegelmann (sein sprachlicher und gestischer Manierismus ist kontraproduktiv: Winfried Goos): Gewinnen die Nazis die Wahl, könnte es dem jüdischen Lehrstuhlinhaber an den Kragen gehen, sein potentieller Nachfolger Haverbeck stehe bereits in den Startlöchern. Auch der größte studentische Nazi-Provokateur, Rosloh (schneidig-elegantes Schwarzhemd mit Pistolenhalfter: Andy Klinger), setzt ganz auf den Wahlsieg. Und kann mit seiner Eloquenz sogar Karlanner dazu gewinnen, den Putschverein zu wählen. Der stellt am Ende des geschichtsträchtigen Tages Helene die Juden-Frage und verbringt den Rest der Nacht im Brauhaus: Vom Dekan (Detlef Lutz) über den Professor (Michael Kinkel) bis hin zum Oberstudienrat (im Braunhemd: Thomas Wittmann) versammelt sich die geistige Elite des Reichs unter Hakenkreuz und Schwarz-Weiß-Rot.
So denkt man sich immer wieder, eine fremde Horde sei eingebrochen. Nein, wir sind eingebrochen in unsere eigene Welt: Nathan Siegelmann wird als Volksverräter der öffentlichen Schande preisgegeben und mit dem Schild Jude um den Hals zum Spießrutenlauf auf die Straße geschickt, wo Karlanner und der zunehmend skrupulöse Tessow gemeinsam Dienst schieben. Wenn sie nicht Juden und denunzierte Andersdenkende frei erfundene Schuldeingeständnisse unterzeichnen lassen, patrouillieren sie vor jüdischen Geschäften, deren Scheiben bald dem sog. Volkszorn zum Opfer fallen.
Karlanner durchschaut erst spät, auf welches Spiel er sich eingelassen hat: Weil er zwei Jahre lang mit einer Jüdin zusammengelebt habe, so Horowitz‘ Nachfolger Haverbeck, verfüge er nicht über die geistige Reife für den Arztberuf. Also kein Examen, keine Promotion. Aber erst, als Rosloh ihm befiehlt, Helene zu verhaften, besinnt er sich auf sich selbst: Vor der Gewalt ist der Mensch nur mehr ein Haufen Brei auf zwei Beinen. Halte ihm eine Kugel vor, schon sind sie nichts. Karlanner hält Rosloh sein Messer entgegen und warnt Helene. Während die Tochter des unbeirrbar national-konservativen Chemiefabrikanten Aaron Marx (geht wie ein Lemming dem eigenen Untergang entgegen, aber in aufrechter Haltung: Martin Schneider) wie Nathan Siegelmann ins sichere Ausland flieht, überlässt sich der schuldbewusste Karlanner selbst der großen Kameradschaft der Wölfe (Tessow): Vieleicht haben wir uns selbst um die Ecke gebracht. Wir waren eine schwache und hilflose Demokratie. Wir hätten eine starke aus ihr machen sollen. Das war die große Aufgabe der deutschen Jugend. Wir haben sie versäumt.
An wenigen Figuren, so Manfred Karge im Programmheft-Gespräch mit dem BE-Dramaturgen Hermann Wündrich über Ferdinand Bruckner (d.i. Theodor Tagger 1891-1958), zeigt er ganz unterschiedliche Verhaltensweisen. Einer hat sich schnell arrangiert, ein anderer ist der typische Mitläufer, ein anderer wird, obwohl zweifelnd, mit hinein gezogen, und einer wird zum Opfer. Anhand von vier, fünf Figuren entwirft er ein Panorama menschlichen Verhaltens in der Diktatur. Das ist erstaunlich gut gemacht. Und noch etwas finde ich ganz außerordentlich, man kann das Stück bei aller Härte des Themas zart und mit geradezu leiser Eindringlichkeit spielen und inszenieren.
Gesagt, getan und das am gleichen Hause, an dem am 12. März 1948 die Deutsche Erstaufführung der Rassen über die Bühne des Theaters am Schiffbauerdamm ging. Karges rund einhundertminütige Inszenierung trägt dem Umstand Rechnung, dass Bruckner seinen dramatischen Schnellschuss als unmittelbare Reaktion auf die Ereignisse im Frühjahr 1933 mit viel Herzblut und überreichlich aufklärerischem Impetus geschrieben hat für ein Publikum außerhalb Deutschlands. Im Reich durfte das erste im Exil geschriebene Werk des erfolgreichsten deutschsprachigen Dramatikers der Zwischenkriegszeit naturgemäß nicht aufgeführt werden. Im Gegensatz zu Krankheit der Jugend, Früchte des Nichts, Elisabeth von England und der Kleist-Adaption Die Marquise von O. stand Die Rassen seit Jahrzehnten nicht mehr auf dem Spielplan einer größeren deutschen Bühne.
Manfred Karge hat das Stück der Vergessenheit entrissen, dafür gebührt ihm zuallererst Dank und Anerkennung. Er hat das in sehr ein-eindeutiger Kostümierung auch mit Mitteln des Brechtschen Lehrstücks auf konventionell-realistische Weise bewerkstelligt, was ihm und speziell Claus Peymanns Haus einmal mehr die Kritik der hausbackenen Musealität eingebracht hat. Dabei kommt die Ausgrabung der Rassen einer vom Blatt zu inszenierenden Uraufführung gleich. Was auch für die nächste Premiere an Shermin Langhoffs und Jens Hilljes kleinstem Stadttheater Berlins gelten könnte. Am 14. Dezember 2013 bringt Lukas Langhoff Volker Brauns Die Übergangsgesellschaft am Maxim Gorki Theater neu heraus, die hier unter der Ägide Thomas Langhoffs in den Achtziger Jahren für enormes politisches Aufsehen im Endstadium des ersten sozialistischen Staates auf deutschem Boden sorgte. Angekündigt freilich ist keine staatstragende archäologische Veranstaltung, sondern eine ganz private Komödie eines horriblen Familientreffens. Harren wir den Dingen…