
Es ist eine aktuelle Frage. Was bedeutet diese Spaltung in unserer Ellenbogen-Gesellschaft, wenn wir uns jederzeit behaupten müssen. Nicht nur in ökonomischer Hinsicht. Wenn Brecht eine Aufspaltung in zwei Personen vornimmt, dann müssen wir uns heute fragen: wodurch werden wir gezwungen, so zu sein?
WLT-Dramaturgin Hilke Holinka
Nach dem Puntila nun Bertolt Brechts Der gute Mensch von Sezuan, geschrieben zwischen 1939 und 1941 in der Emigration – folgerichtiger, kontinuierlicher Spielplanaufbau beim Westfälischen Landestheater, Premiere war am 18. September 1988 in der Castrop-Rauxeler Stadthalle.
Sabine Sauter hat für Franz Bäcks szenisches Experiment eine verblüffend einfache Bühne gebaut. Packpapier-Rollen im Halbkreis, Lampions davor, symbolisieren die Häuser Sezuans, an deren Türen im Vorspiel der Wasserverkäufer Wang klopft, um Quartier zu machen für drei Götter, welche ihrer Existenzberechtigung unsicher geworden sind und daher nach einem guten Menschen forschen, der ihren Handlungsmaximen entspricht. Doch nur bei der roten Laterne der Prostituierten Shen Te findet Wang freundliche Aufnahme.
Aus Dankbarkeit verhelfen die Götter Shen Te zu einem Tabakladen, mit dessen Erträgen sie die Armen der Stadt unterstützen soll. Diese nisten sich schnell wie Schmarotzer bei ihr ein und Shen Te bleibt, um nicht Konkurs machen zu müssen, keine andere Wahl, als sich zeitweise in ihren imaginären Vetter Shui Ta zu verwandeln, um das Geschäft unter kapitalistisch-ökonomischen Maximen gewinnbringend zu führen.
Vor dem Gericht der Götter muß sich Shen Te/Shui Ta für ihr Verhalten rechtfertigen, aber die Olympischen finden selber keinen Ausweg und ziehen sich als Beobachter zurück. Im Epilog wird dem Publikum zu verstehen gegeben, daß es sich gefälligst selbst eine Lösung suchen müsse. Freilich unter den didaktischen Vorgaben dieser Parabel: andere Verhältnisse müssen her.
Der Wiener Regisseur Franz Bäck, seit der Spielzeit 1988/89 Oberspielleiter am WLT, hat zusammen mit Chefdramaturgin Hilke Holinka eine Fassung erarbeitet, die von Benno Bessons 1957er Modellinszenierung am (Ost-) Berliner Ensemble ausgeht (Brecht selbst hat sein Stück selbst nicht auf die Bühne gebracht): er kürzte am Vorspiel und in den Szenen eins bis acht nur unwesentlich, strich zwei Zwischenspiele sowie den Epilog und stellte die beiden Schlußszenen neun und zehn um.
Als aber der Mangel…: Im Sprachduktus der Heiligen Schrift beginnt die knappe Einführung zu einer Revue, die nach vierzig Jahren real existierendem Sozialismus nicht mehr davon ausgehen kann, daß Verhältnisse geschaffen werden können, unter denen es möglich sein wird, gut zu sein und doch zu leben. Der Schluß ist offen, die Ratlosigkeit allgemein.
In bester Jerome Savary-Tradition, der die Österreicher mit seinem Circus in Bregenz und an der Wiener Volksoper verzauberte, setzt Bäck auf Überzeichnung, Exzessivität in Mimik und Gestik, auf das Chargieren des gesamten, bestens disponierten Ensembles.
Moritz Dürr ist kein geschundener, unter der Last zusammenbrechender Proletarier, an seinem Joch baumeln die immer mehr in Mode kommenden Evian-Flaschen. Der DDR-Gaststar Sonja Kehler, im eng anliegenden roten Samtenen als Shen Te, im Nadelstreifen-Look Chicagos als Shui Ta, ist ganz Diseuse. Sie hat sich in der Bundesrepublik vor allem durch ihre zahlreichen Kleinkunstprogramme einen Namen gemacht, so gastierte sie mit ihrem Maxie-Wander-Abend in den Herner Flottmannhallen. Nach Bühnenengagements an verschiedenen Theatern der DDR arbeitet Sonja Kehler seit zwölf Jahren frei, weil sie es nicht aushielt. Ich verstehe die maskuline Szene am Theater nicht. Das ist mir alles zu chauvinistisch verriet die vielbeschäftigte Künstlerin im SN-Gespräch mit Sabine Herrmann. Nach diversen Brecht-Erfahrungen in ihrer Heimat bedeutet es danach für die Schauspielerin eine große Herausforderung, mit einem westlichen Regisseur eine Brecht-Inszenierung zu erarbeiten.
Bernd Wefelmeyer (Piano), der zusammen mit Dieter Erhard (Drums, Percussion) und Andreas Salm (Klarinette, Saxophon) stets auf der Bühne präsent ist, hat die intellektuell-trockene Musik Paul Dessaus modern interpretiert. Jazz, Rock, Blues, italienische Klänge Brechts Parabel als opera buffa. Wenn das die Erben wüßten!
Dessau hat für den Sezuan neben parodistischer Operetten-Interpretation und hart akzentuierten Sprechgesängen vor allem Lieder vertont, die sich direkt ans Publikum wendend das Bühnengeschehen kommentieren. Wefelmeyer hat entsprechend Bäcks Regiekonzept Solopartien flott arrangiert und das Ensemble als Chor integriert bis hin zum gewaltigen finalen Show Down an der Rampe, dem Terzett der entschwindenden Götter auf der Wolke.
Das WLT-Ensemble glänzt mit szenischem Witz, so Tirzah Haase als femme fatale, Norbert A. Muzzulini als Teppichhändler, der sich an seinen Wohltaten förmlich aufgeilt, Peter Dobrowolski als verkörperter Weidenbaum und Regenmacher. Sabine Sauters zeitlos-exotischen Kostüme kommen ohne alle Chinoiserie-Nostalgie aus. Dieser entstaubte Brecht dürfte zu den Höhepunkten der 5. Landesbühnentage gehören, die Ende Oktober in Wolfsburg abgehalten werden.