
Harrys Kopf, das ist Heines Kopf, der Kopf eines Dichters, den die Unruhe seines Herzens, die Engstirnigkeit und der Druck der politischen Verhältnisse in Deutschland in die Fremde getrieben haben: wir erleben Heinrich Heine als Liebling der feinen Pariser Gesellschaft, der sich zu Hause mit seiner geliebten Mathilde prügelt, als Atheisten, der doch immer noch die strengen Augen seines alten jüdischen Gottes auf sich ruhen fühlt, als Revolutionär, der sich von Rothschild kaufen läßt, als Freund der aufständischen Massen, den es vor ihrem Geruch ekelt, als deutschen Poeten, der sich nach dem Rhein sehnt und nur an der Seine leben kann, der grell das Progrom von Bacharach beschreibt und doch Deutschland seine ferne Liebe nennt. Ein Bild des Dichters wird entworfen, vermischt sich mit literarischen Fiktionen und entzieht sich spielend allen Festlegungen: Heinrich Heine, möglicherweise?
Tankred Dorsts hier von der Dramaturgie des Düsseldorfer Schauspielhauses so trefflich beschriebene Auftragsproduktion zum Jubiläumsjahr anläßlich des 200. Geburtstages des am 13. Dezember 1797 als Harry Heine in Düsseldorf zur Welt gekommenen Dichters, die am 17. Oktober 1997 heftig umjubelte Uraufführungs-Premiere feierte (Text in Theater heute abgedruckt), ist eine seiner typischen biographischen Szenenfolgen, die sich im Kopf des Theatergängers nur zu einem Mosaik zusammensetzen, wenn dieser sich ganz darauf einläßt. Zuvor hat sich der Büchner-Preisträger bereits mit den Dichtern Toller, Hamsun und D’Annunzio literarisch auseinandergesetzt, demnächst soll Tolstoi folgen.
Dorst erzählt seine in Paris spielende Szenenfolge, als sei sie unmittelbar dem Kopf des zu ehrenden Jubilars entsprungen. Sein dramatisches Potpourri vom Leben und Sterben Heinrich Heines kommt als einerseits authentische, sorgfältig recherchierte Revue daher, andererseits als phantastische, in der nicht nur Zeitzeugen wie Balzac, Börne und Rothschild (Michael Abendroth) auftreten, sondern auch ein renitenter englischer Reporter namens Cokker (Klaus Schreiber), der sich weder von Mathildes Beschimpfungen vertreiben lässt noch von Heines Buch der Lieder, das sie ihm an den Kopf geworfen hat: Es ist sehr schwer, einen deutschen Dichter zu verstehen, wenn man selbst ein vernünftig denkender Mensch ist.
Regisseur Wilfried Minks, auch für die kahle, kalte Bühne verantwortlich, in der Heines Pariser Matratzengruft im Halbkreis von einem halben Dutzend Türen umstellt ist, läßt vom Blatt spielen, da hat es Jürgen Flimm einige Wochen später am Hamburger Thalia-Theater leichter, persönliche Akzente zu setzen. Aber für eine Urinszenierung spricht die größtmögliche Werktreue, und die ist in Düsseldorf bis in den Nebentext des Autors hinein gegeben. Das mag für die Rezensenten, die üblicher- aber hier tief im Westen leider keineswegs selbstverständlicherweise vor der Premiere den Text gelesen haben, langweilig sein, weil jegliches Spannungsmoment fehlt. Für das Publikum der Landeshauptstadt, das seinem Heine nach langer Zeit wieder begegnet im Sommer gabs zunächst Heines Frühwerk Ratcliff – erscheint es das richtige Konzept.
Stück und Inszenierung leben vor allem von der trefflichen Besetzung mit einem überragend facettenreichen Fritz Schediwy in der Titelrolle und einer so burschikosen wie bei aller ausgestellten Matronenhaftigkeit durchaus auch sinnlichen Anke Hartwig als Mathilde. Hauptkritikpunkt an dieser selektiven Wahrnehmung Dorsts in fünfzehn Szenen, der bisweilen ein dramaturgischer Roter Faden fehlt, ist die verwirrende Vermischung von Biographie und Werk.
Einerseits die 1848er Straßenkämpfe der französischen Revolution und unter ihrem für Heine beängstigenden Eindruck sein geistreicher Dialog mit den Kollegen Balzac (Edgar Walther), dem Anhänger der Monarchie, und dem Jakobiner Börne (Martin Schneider). Während Mathilde, dies ein authentisches Detail, nur den Verlust der für den Barrikadenbau verwandten Kutsche beklagt. Wobei sich die Wissenschaft nicht einig darüber ist, ob der die Herrschaft des Pöbels fürchtende Heine den Wagen nicht doch aus eigenen Stücken den Aufständischen zur Verfügung gestellt hat, als er in ihm zum Hospital gefahren ist.
Andererseits treten Figuren aus dem Fragment Der Rabbi von Bacharach auf, darunter Franz Xaver Zach als ängstlicher Jude Nasenstern, und dem so bornierten wie geschäftstüchtigen Hippodrombesitzer Seraphim (Götz Argus) an die Seite, der nur Augen für seinen effektvollen Amüsierbetrieb hat. Und am Ende, nach gut zweieinhalb Stunden, als er sich von seiner letzten großen Liebe Mouche (Anke Schubert) verabschiedet hat, steht Heine auf einem Denkmal-Sockel mitten in New York, zu seinen Füßen zwei barbusige Statistinnen (die zuvor über die Düsseldorfer Zeitungen gesucht worden waren): Who, the fuck, is Heine?.
Tankred Dorst, Gastprofessor an der nun Hochschule genannten einstigen Akademie der Künste Berlin, berichtete im Juni 1997 dem Studiengang Szenisches Schreiben in der Künstlerwerkstatt im Bahnhof Westend, daß es sich bei Harrys Kopf ursprünglich um ein gemeinsam mit Peter Zadek für das Schauspielhaus Bochum entwickeltes Projekt handelt: Unter vielen Plänen und Entwürfen, die liegengeblieben sind, findet sich ein Projekt, das den Titel ‚Harrys Kopf‘ hat. Es muß etwa 1970 entstanden sein. Harrys Kopf, das ist Heines Kopf. Es sollte meiner ersten Vorstellung nach nicht ein Stück mit einer klassisch konstruierten Handlung werden, eher eine lose Sammlung von Gesprächen, die mit Heine in seinem Pariser Exil wirklich geführt worden waren. Es ging mir darum, für diese authentischen Gespräche eine dramaturgische Form zu finden. Theater, das hieß für mich: Erfindung, auch wenn Dokumente in dies Erfindung eingebunden sind. Ich suchte für ‚Harrys Kopf‘ eine offene Dramaturgie, wollte die Chronologie vermeiden, wollte mit Hilfe der Dokumente Realität in den Theaterabend einbringen und eben an den Dichter Heine, an diese Person erinnern, die mir seit ich 14 war am Herzen lag. ( ) Harry lebt im Exil. Er ist eine Berühmtheit, ein interessanter Mensch. Viele, die aus Deutschland nach Paris reisten, suchten seine Bekanntschaft, haben mit ihm gesprochen, ihn befragt, haben seine witzigen Bemerkungen, seine Ansichten und Sottisen notiert. ( ) Aber was mir 1970 wichtig war: auf eine Ideologie ließ sich der Dichter Heine nicht festlegen. Und Mathilde beschäftigte mich, Heines Ehefrau, über die es so verschiedene Meinungen gab. Jemand hatte ihm boshafterweise ins Gästebuch geschrieben ‚Wie wird man eine Grisette los? Indem man sie heiratet.‘ Heine sagt: ‚Ich liebe Mathilde inniger, als du dir denken kannst. Und weißt du, was den größten Reiz für mich hat? Ihre Unwissenheit.‘ Und: ‚Je l’aime, parce qu’elle ne sait pas ce qu’un poete.’