
Es war einmal vor langer Zeit, da gab es Orte, die waren auf keiner Karte. Und diese Orte waren auch nicht wirklich, aber sie verelendeten irgendwie. Sie waren irgendwie nur Orte der Verelendung: Und die nannte man die world wide web-slums. Und in diesem globalen Dorf der Verelendung arbeiteten auch Leute, aber da Arbeit irgendwie nur ein Zombie war und schon lange tot, weil es nur noch eine Produktion von Reichtum gab, konnte man diese surrealen Beschäftigungen, denen die Leute nachgingen, eigentlich keine Arbeit mehr nennen, sondern nur Scheißarbeit. Und niemand handelte mehr. Gehandelt wurde nur noch elektronisch. Gehandelt wurde nur noch elektronisch! Alle handelten nur noch elektronisch und tauschten Platten im Netz aus und hatten tragbare Computer und Displays unter ihrer Haut, so groß wie Kreditkarten, mit denen sie Sachen bestellten oder lieferten. In dieser Zeit lebten auch unsere vier Helden, deren Geschichte wir hier erzählen…
Klappentext im Programmheft zur Uraufführung der 1. Folge Soaps sehn nur live richtig gut aus am 8. November 2000 im Rangfoyer des Deutschen Schauspielhauses Hamburg
Wenn es analog zu den Fußballehrern in der Deutschen Bundesliga eine Wettliste gäbe, wer als erster Trainer in der neuen Saison gefeuert werde, so würde Tom Stromberg, Intendant des Deutschen Schauspielhauses Hamburg, die Pool-Position einnehmen. Was abzusehen war, denn schon größere Kaliber, ich erinnere an Peter Zadek, sind an der schieren Kapazität des Theaters mit den meisten Sitzplätzen in Deutschland gescheitert.
Die erste Stromberg-Spielzeit 2000/2001, die in gut einem Monat endet, kann sich, was die Platzausnutzung betrifft, nicht mit der des so erfolgreichen Vorgängers Baumbauer messen. Schlimmer noch: Auch künstlerisch scheint es an der Alster nicht zu stimmen, was die interne Hamburger Hierarchie betrifft. Freilich ist auch das neue Direktorium am Thalia-Theater unter Beschuß der veröffentlichen Meinung geraten. Ein schwacher Trost angesichts der Tatsache, daß mit Peter Zadeks Bash-Inszenierung die mit Abstand beste Hamburger Produktion dieser Spielzeit im kleinen Privattheater Kammerspiele herausgekommen ist.
world wide web-slums ist ein groß angelegtes Projekt. Sieben Folgen, in Serie produziert, feierten zwischen Anfang November und Ende Dezember 2000 im Rangfoyer des Dickschiffes am Hauptbahnhof Premiere. Und stellten den Autor Rene Pollesch, in gewohnter Personalunion auch der Regisseur, das vierköpfige Ensemble und die Bühnentechnik vor enorme Probleme, die Catrin Striebeck Anfang Juni 2001 in der Stücke-Diskussion im Mülheimer Ringlokschuppen auf den Punkt brachte: Noch einmal setzen wir uns diesem Streß nicht mehr aus.
Einer ist inzwischen auch abgesprungen: Stefan Merki zieht zum Saisonende samt Familie nach München und damit in konventionelleres Theaterfahrwasser. Sodaß die drei anschließenden Folgen acht bis zehn, nun gebündelt zu einem zweistündigen Abend im Großen Haus, ohne ihn produziert worden sind.
Die Folgen eins bis sieben, die in einer kleinen Spielstätte unter dem Dach des Schauspielhauses zu mitternächtlicher Stunde gegeben wurden, sind heute nur noch im Internet zu sehen was man nicht verpassen sollte! In Hütten aus Notebooks wird Caroline Peters ihren Körpercomputer los und arbeitet in einem Call-Center, wo Teile ihrer Persönlichkeit Warencharakter annehmen: Sie wird praktisch nur für ihr Lächeln bezahlt. Catrin Striebeck zieht daheim aus und campt in der Wüste, weshalb ihr Nachwuchs zu Straßenkindern mutiert. Bernd Moss‘ Firma ist pleite und versucht mit Stefan Merki etwas Neues aufzubauen.
In Bevor ich lodernd in Bargeld aufging… zieht Bernd Moss zu Stefan Merki und wird von ihm dafür bezahlt, daß er ihm Gesellschaft leistet. Später ziehen auch Caroline Peters und Catrin Striebeck ein, die eigentlich auch nur herumhängen, aber auch dafür Geld bekommen. Was sonst ja nur für Kochen, Kindererziehung und Sex üblich ist. Das kann Caroline Peters nicht auf sich beruhen lassen, weshalb sie sich nun übers Internet verdingt.
Deregulierte Märkte brauchen deregulierte Emotionen, so der Titel der vierten Folge, läßt Catrin Striebeck zur Entwicklungshelferin werden aber nur virtuell übers world wide web. In dem Caroline Peters immer noch ihren Körper verkauft. Den dort auch Stefan Merki zu Gesicht bekommt, was zu einer Zäsur führt, zu einem bei Rene Pollesch naturgemäß nur kurzen Atemholen: das Quartett reflektiert über sein Gefühlsleben.
In Betten sind Orte erhöhter Wachsamkeit werden Stefan Merki und Bernd Moss zu Rebellen und auch Catrin Striebeck hält Protestschilder in die Luft, aber was ist das angesichts der Tatsache, daß Viren, die in das weltweite Netz eingeschmuggelt werden, weit effektiver sind.
Selbst der Tot ist nicht mehr das, was er einst war (mit Ausnahme der Bretter, die die Welt bedeuten), nämlich endgültig: In Dauernd Platten tauschen stirbt Caroline Peters, wird in einer Techno-Disco aber mit Hilfe einer Plastikgebärmutter wiedergeboren. Angesichts dieses enormen technischen Fortschritts fordert sie die Abschaffung solch‘ mühsamen Erdenwallens wie Kinder gebären und anschließend erziehen. Die anderen drei zweifeln, ob es sich bei Caroline Peters noch um einen Menschen handelt und so beauftragen sie einen Bladerunner mit der Wahrheitsfindung. Der macht seine Sache so gründlich, daß am Ende niemand mehr weiß, was künstlich oder menschlich ist.
Und das wird in der siebten und letzten Folge, Scheißleben sind mit Aufwand verbunden, so erklärt: Unsere vier Protagonisten tragen Computer unter der Haut und der Markt, also: die Wirtschaft, ist ihnen zur zweiten Natur geworden. Als Subjekte und Objekte zugleich: Wir sind voller Lebensgier, aber wir doppelklicken uns nur. Wir suchen nach der sozialen Dimension in den world wide web-slums, aber deshalb sind wir noch lange keine künstlichen Menschen! Caroline Peters trotzt der Erkenntnis, daß sie in Wirklichkeit ein Roboter ist: Ich glaube an Ufos. Und das laß ich mir nicht nehmen. Da laß ich mir nichts vormachen! Da gibt es Leben da draußen. Und da macht mir niemand was vor! Irgendwo da draußen gibt es Leben. Verdammte Scheiße. Das weiß ich genau. Ja, gut, kann sein, das ist nur ein Fetzen Erinnerung, der mir sagt, ich lebe, oder ich habe den und den Fetzen Wirklichkeit erlebt. Aber da gibt es irgendwo Leben da draußen in meinem Kopf. Das glaube ich!
Für den Mülheimer Stücke-Wettbewerb wurden die Proben für den ersten Teil, Soaps sehn nur live richtig gut aus!, kurzfristig noch einmal aufgenommen und die Souffleuse hatte mächtig zu tun, was dem Spielfluß aber keinen Abbruch, sondern im Gegenteil sogar gut tat. Authentischer war kein anderer Theaterabend an der Ruhr in diesem Jahr – und das beim Thema dieser lebenden Serie, dem virtuellen Internet-Zeitalter. Gehandelt wird, und das ist ökonomisch und real gemeint, nur noch elektronisch. Die Menschen verkommen vollends zu Maschinen: Mit einem implantierten Chip reagieren sie auf die Befehle des Marktes.
Die Hausarbeit hat sich revolutioniert: Der Kühlschrank meldet selbständig, wenn bestimmte Lebensmittel fehlen, sodaß der UPS-Service ungerufen die Bestände wieder auffüllt. Dieses unmittelbare Agieren des Marktes hat zur Folge, daß der Mensch als Individuum keine Chance mehr hat für ein selbstbestimmtes Leben außerhalb der global vernetzten kapitalistischen Ordnung. Er mutiert zu einem fremdbestimmten Roboter, der allerdings in der Lage sein muß, selbst komplizierte technische Reparaturen durchzuführen. Dafür ist soziales Engagement, und sei es auch nur auf die Erziehung der eigenen Kinder beschränkt, verpönt.
In der ersten Folge shoppt Gong Titelbaum (die überragende Catrin Striebeck) in Online-Kaufhäusern herum und muß feststellen, daß zuhause nichts produziert wird und sie nur das Rahmenprogramm für eine Produktion von Reichtum darstellt. Ostern Weihnachten, die agile Caroline Peters, die auch in der auf das Mülheimer Gastspiel folgenden Publikumsdiskussion eine ausgesprochen toughe Figur abgibt, kann alle möglichen Maschinen reparieren, weil sie über einen Körpercomputer Anweisungen von Schwänzen erhält. Mit letzteren sind die männlichen Beherrscher der Weltökonomie gemeint. Ostern Weihnachten wehrt sich gegen ihre Rolle in einer Dienstleistungsgesellschaft, welche die Frauen zu reinen Befehlsempfängern der Männer reduziert: Sie führt Anweisungen bewußt schlampig aus und läßt ihren sozialen Bereich verslumen.
Drahos Kuba (Bernd Moss) lebt in einem Schlafsack und arbeitet in einer coolen Firma, in die er eingestöpselt ist: Ein Selbstausbeuter ohne Alternative, der sich auch noch wohlfühlt in seiner Rolle, der seinen Job als Selbstverwirklichung ansieht. Das, so ergibt die Publikumsdiskussion, auch als Bild der Schauspieler in dieser Produktion interpretiert werden kann und natürlich, in unserer ganz realen Welt und unabhängig vom Medium, das er nutzt bzw. für das er schreibt, auf jeden freien Kulturjournalisten zutrifft.
Frank Olyphant schließlich (Stefan Merki) verslumt, weil er nie zuhause ist (das galt in der wahnsinnigen Probenphase offenbar auch für die Hamburger Schauspieler selbst): Er ist mit DNS-Analysen und der Entschlüsselung des Lebens überbeschäftigt und merkt gar nicht, daß das eigentliche Leben an ihm vorüberzieht. Jobs in der Hochtechnologie glorifizieren das Arbeiten rund um die Uhr geradezu.
Janina Audick und Tabea Braun haben für den einstündigen Abend eine Wohnlandschaft wie aus den Siebziger Jahren zusammengestellt: Das Publikum hockt auf Häkelkissen am Boden, die Bühne ist ein skurriles Sammelsurium aus Hängematten, Sitzkissen und Kinderzimmer-Versatzstücken. Daß es sich bei seinem Stück deshalb um einen Kindheits-Alptraum handelt, wird vom Autor, der sich in Mülheim wie die Schauspieler vehement gegen die Dummheit der Großkritiker zu Wehr setzte, bestritten: Sein Stück, so Rene Pollesch, sei eine bisweilen kabarettistisch anmutende Zeitkritik, eine schwarze Zukunftsvision, die vor allem die Rolle der Frau im Medienzeitalter kritisch betrachte. Das hätten die Kritiker einfach nicht nur Kenntnis genommen ein genuin männlicher Berufsstand eben.
P.S. Für world wide web-slums gabs den Mülheimer Dramatikerpreis 2001 quasi im Nachklapp zur Uraufführung der Schlußteile acht, neun und zehn, Mitte Mai 2001 an einem Abend im Großen Haus gespielt. Mit Cat Stevens vom Band und einer richtigen Live-Band, Plewka & Friends. Aber nur noch mit dem Schauspieler-Trio Caroline Peters, Catrin Striebeck und Bernd Moss besetzt, das aus den Logen über zwei Rutschen in der Kissen- und Kisten-Landschaft der Vorbühne landet. Dieses Hotel simuliert Zuhause, es tut so, als gebe es einen Alltag: Die Ausstatterin Janina Audick hat versucht, wenigstens einigermaßen die intime Atmosphäre des Rangfoyers ins Große Haus herüberzuretten.
Die Welt ist eine Börse und die hat 24 Stunden geöffnet: Die nahtlose Fortsetzung der Kapitalismus-Soap trägt die Untertitel Tal der Puppen, Dein Leben ist eine Razzia! und Revolutionäre Showrooms zeigen: die B-Seiten von BMWs. Das sich einmal mehr körperlich völlig verausgabende Trio verstreut zunächst die Asche des Verstorbenen und nutzt hernach die neuen räumlichen Freiheiten, um dem Publikum im Parkett auf die Pelle zu rücken Theater hautnah. Und mit Haaren, die bei der akrobatischen Kletterei über die Sitzreihen abgeschnitten werden. So landet manch‘ blondes Haar am Paletot eines soignierten Hanseaten.
Da gehts ja zu wie bei den legendären Kartoffelbrei-Schlachten des Eisenhändlers in Prenzlberg. Tatsächlich bespielt Rene Pollesch ab Herbst 2001 dann den Prater an der Kastanienallee im angesagten Berliner Szeneviertel Prenzlauer Berg, der Nebenspielstätte von Frank Castorfs Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz und das eine ganze Spielzeit lang!