

4.58 Uhr. Helene (einmal mehr überragend: eine unbeirrbare Sandrine Bonnaire) wacht auf, noch bevor der Wecker klingelt und womöglich auch ihren Gatten Ange (Francis Renaud) vorzeitig aus dem Schlaf holt, unnötigerweise. Ihm ist sie vor einigen Jahren in die kleine korsische Küstenstadt gefolgt und hat es nicht bereut: An der Seite des einfachen Hafenarbeiters hat sich Helene, die als Zimmermädchen in einem Hotel arbeitet, eine zwar bescheidene, aber zufriedenstellende Existenz aufgebaut. Ihre gemeinsame Tochter Lisa (Alexandra Gentil) ist mittlerweile 15 und flügge – was die Eltern naturgemäß nur höchst ungern zur Kenntnis nehmen. Noch ärger: Lisa schämt sich ihrer proletarischen Erzeuger und versteckt sie geradezu vor einem neuen Freund.
Mit dem Fahrrad fährt Helene entlang der Küste zur Arbeit, die selbst im Morgennebel noch phantastischen Sehnsuchts-Bilder (Kamera: Jean-Claude Larrieu) der französischen Mittelmeer-Insel kaum eines Blickes würdigend: Routine halt wie das Wechseln der Bettwäsche im Hotelzimmer. Doch diesmal wirft sie ganz voyeuristisch einen Blick durch den transparenten Vorhang auf den inzwischen sonnigen Balkon: Dort ist ein junges, verliebtes amerikanisches Paar (Dominic Gould und Jennifer Beals) in eine Schachpartie vertieft. Helene fasziniert die Muße, die Harmonie und auch die Erotik, die beide Spieler ausstrahlen.
Eben noch mit sich und der Welt im totalen Einklang, merkt sie plötzlich, dass ihr etwas fehlt. Dieser noch sehr indifferente Eindruck wird zur Gewissheit, als Lisa beim Abendessen offenbart, an einem kostspieligen Praktikum in England teilnehmen zu wollen anstatt in den Ferien Geld zu verdienen. Und überhaupt wolle sie endlich ‚mal ‚raus aus diesen spießigen, ärmlichen Verhältnissen. Doch damit noch nicht genug: selbst im sexy Neglige kann Helene ihren Gatten nicht becircen fehlt, welcher fürchtet, seine Arbeit auf der Werft zu verlieren und keinen Sinn für Zärtlichkeiten hat.
Helene fährt am nächsten Tag zu dem als verschroben und äußerst schwierig geltenden Doktor Kröger (Paraderolle für den hier herrlich kauzigen Kevin Kline), einem zurückgezogen lebenden Witwer, dessen Haushalt sie in Ordnung hält. Sie lässt sich durch die arrogante, oft auch verletzend-herablässige Art dieses Misanthropen nicht aus der Ruhe bringen, im Gegenteil: sie bittet ihn nicht nur um eine längst überfällige und nun auch dringend benötigte Lohnerhöhung, sondern auch um eine Einführung in die hohe Kunst des Schachspiels, bei dem die Dame die stärkste aller Figuren ist…
Ein Zimmermädchen bricht durch die Entdeckung ihrer Leidenschaft für das Schachspiel aus der Enge ihres monotonen Familienlebens aus und findet zu sich selbst: Caroline Bottaros Langfilm-Debüt „Die Schachspielerin“, zu sehen als Free-TV-Premiere am Sonntag, 23. Juni, um 23.30 Uhr im „Ersten“ (Wiederholungen am 24. Juni um 20.15 und 23.10 Uhr auf Eins Festival) basiert auf dem gleichnamigen Debütroman der in Frankreich lebenden deutschen Autorin Bertina Henrichs, verlegt den Ort des Geschehens jedoch von einer griechischen auf die französische Mittelmeer-Insel Korsika.
Die 1969 in Bielefeld geborene und ebenfalls in Frankreich ebende deutsch-italienische Drehbuchautorin und Regisseurin Caroline Bottaro nimmt das Schachspielen als Metapher für die Leidenschaft und den Mut einer so genannten grauen Maus, über den eigenen Schatten zu springen und sich selbst neue Ziele zu setzen. Mit Sandrine Bonnaire und Kevin Kline hat sie eine kongeniale Besetzung gefunden – und noch ein Debüt kreiert: der begnadete New Yorker Shakespeare-Bühnendarsteller hat erstmals außerhalb der USA gedreht – und dann auch noch in einer fremden Sprache.
Für die deutsche „Lola“ und den Europäischen Filmpreis hat es gereicht, für den „Oscar“ dagegen nur zur Nominierung, was bei einem Dokumentarfilm freilich auch nicht anders zu erwarten war: „Pina – tanzt, tanzt, sonst sind wir verloren“, zu sehen am Mittwoch, 26. Juni, um 20.15 Uhr auf Arte als Free-TV-Premiere, ist ein Film „für“ Pina Bausch, nicht über sie. Wim Wenders bringt dem breiten Publikum weder die Choreographin noch ihre Arbeit wirklich näher, indem er sich Pina Bauschs Methode zu eigen gemacht hat: „Was ich suche, muss ich mit den Worten in Ruhe lassen.“ Sondern leistet vor allem Trauerarbeit. So stehen die sehr emotionalen und häufig anrührenden Statements der noch ganz unter dem Eindruck ihres Todes stehenden Ensemblemitglieder zwischen Schockstarre und tiefer Ratlosigkeit über die eigene Zukunft und die der Compagnie gleichgewichtig im Zentrum der einhundert Minuten mit den recht isoliert wirkenden Ausschnitten der vier noch von Pina Bausch selbst für den Film ausgewählten Stücke.
In denen man wirklich mittendrin ist statt nur dabei, obwohl dem Filmteam nur wenig Zeit blieb, denn bis auf „Kontakthof“ konnte aufgrund der internationalen Gastspielverpflichtungen des Tanztheaters Wuppertal nur live gedreht werden bei Aufführungen vor Publikum im Barmener Opernhaus. Für Pina Bausch-Fans ist Wim Wenders‘ Film, der der Choreographin selbst nur wenige, mit ihrem Lebensmotto „Tanzt, tanzt, sonst sind wir verloren“ aber die letzten Worte einräumt, natürlich ein absolutes Muss. Und vielleicht der Auftakt zu einer ganz neuen Produktionssparte des abseits des rein musealen Konservierens noch seine künstlerische Mitte suchenden Tanztheaters Wuppertal, das heuer vor einer großen Jubiläumssaison steht.
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Joachim Krol ist als venezianischer Kommissar in der Donna-Leon-Verfilmung „In Sachen Signora Brunetti“ zu sehen am Sonntag, 23. Juni, um 20.15 Uhr auf Eins Festival. Gleich weiter geht es mit einem zweiten Wahl-Kölner aus Herne: Wotan Wilke Möhrings Durchbruch, Johannes Fabricks preisgekröntes Drama „Der letzte schöne Tag“, zeigt das „Erste“ am Mittwoch, 26. Juni, um 20.15 Uhr (Wiederholung um 0.20 Uhr). Wahrscheinlich ist es „der“ Kultfilm der DDR, den der Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB) am Mittwoch, 26. Juni, um 22.55 Uhr ausstrahlt: Heiner Carows „Die Legende von Paul und Paula“ mit Winfried Glatzeder und Angelica Domröse.