
Heute, auf den Tag genau vor 100 Jahren, ertrank der 24-jährige Dichter Georg Heym beim Schlittschuhlaufen auf der Havel bei Schwanenwerder, als er seinen ertrinkenden Freund Ernst Balcke retten wollte. Der Lyriker und Novellist wäre vielleicht einer der großen deutschen Dichter geworden, jedenfalls des zwanzigsten Jahrhunderts. Heyms Sprachbilder entwerfen moderne Großstadtlandschaften mit ihren Fabriken, Schloten, Straßen und Kanälen. Sie sind bevölkert mit Menschenmengen auf der Suche nach Vergnügungen und Erlösung. Seine Lyrik speist sich aus Schmerz, Elend und Verzweiflung und der Sehnsucht nach tiefen Erschütterungen. Mit einem Gedicht an seine Freundin Hedi Krohn schafft Heym aber auch das vielleicht schönste Liebesgedicht des deutschen Expressionismus.
Manfred Karge im BE-Programmheft Georg Heym: Faust. Fragment 1911
Als Claus Peymann noch Intendant am Schauspielhaus Bochum war, brachten Manfred Karge und Matthias Langhoff 1980 das Stück Lieber Georg des nach der Wolf Biermann-Ausbürgerung in den Westen umgesiedelten Thomas Brasch zur Uraufführung. Bei der Vorbereitung stieß Karge zwischen etwa 500 Gedichten, Dramen und Dramenentwürfen, Tagebüchern, Traumprotokollen und Erzählungen auf ein schnell hingeworfenes Faust-Fragment aus dem Jahr 1911, ganze zweieinhalb Druckseiten lang voller origineller, frecher und kurioser Fantasien.
Dieses Unikum der Vergessenheit zu entreißen, hat Manfred Karge nicht mehr losgelassen. Exakt am 100. Todestag Georg Heyms, am 16. Januar 2012, ging die Uraufführung von Karges sehr (selbst-) ironischer Montage rund um Heyms Fragment in eigener Regie und Ausstattung (Kostüme: Julia Rogge) über die Bühne des BE-Pavillons: Bis auf einige notwendige Ergänzungen sind alle zusätzlichen Texte, so Karge, von Heym selbst. Sie sind seinen Tagebüchern, Traumprotokollen, Gedichten, Briefen und anderen hinterlassenen Texten entnommen, die also nie für die Bühne vorgesehen waren.
In Karges gut achtzigminütigem, auch in einer so gut wie ausverkauften Repertoireaufführung Ende Januar 2012 beifallumrauschtem Pasticcio geleitet ein entsprechend grell kostümierter Jahrmarktsbuden-Teufel aus dem Vergnügungsviertel Luna-Park Heyms Faust, einen Studenten, den sein brachliegender Enthusiasmus zu ersticken droht, auf eine irrlichternde Reise durch Berlin, auf den Mond und schließlich in die Hölle.
Faust, der Teufel ein Mann mit rotbeschmiertem Gesicht und einem Dreizack. Zwei große Hörner auf. Szenen im Lunapark. Die Schwarzen als Ringkämpfer. Szenen: eine Bretterbude hinten ein Park. Liebespärchen auf den Bänken: So beginnt Heyms Faust-Fragment. Und in der Tat steht bei Karge mit Patrick Bartsch ein Teufel im knallroten Ganzkörper-Trikot, zwei veritable Hörner auf dem kahlen Schädel und die Füße in Westernstiefeln, auf den Brettern eines Jahrmarktsbuden-Guckkastens mit Brecht-Gardine, am Proszenium als Neopathetisches Cabaret ausgewiesen, dem historischen Berliner Ort der ersten großen Erfolge des Lyrikers Georg Heym bei Publikum und Kritik.
Ort des Geschehens im intimen BE-Pavillon ist das Pauklokal einer farbentragenden Studentenverbindung, an der Wand zwei Degen und auf dem kahlen, beinahe raumfüllenden Tisch jede Menge Bierkrüge. Unsere Krankheit ist unsere Maske schreibt der allem strebsamen Bemühen überdrüssige Student Faust (Andy Klinger) mit Kreide an die Wand. Denn die Welt ist geheimnislos geworden: Alle Länder sind erforscht, die fernsten Meere zerpflügt. Der Mensch kennt seinen Lebensstern. Was bleibt? Die eigene Fratze!
Begeisterung, Größe, Heroismus das war einmal. Die Liebe könnte helfen aus der Langeweile, oder der Ruhm, vielleicht sogar ein Krieg. Kann er haben, meint der für Faust noch unsichtbare Teufel und fügt dem Studenten, der seine Schwäche zu eliminieren sucht durch Gewöhnung und Selbstsucht, durch Mensuren und Händel, einen so ordentlichen Schmiss zu, dass der herbeigerufene Arzt (Michael Kinkel) eine exzellente Narbe verspricht. Und zum Besuch des Luna-Parks rät: Det bringt Se uff andre Jedanken.
Der Heymsche Schwarze (Peter Luppa) lockt Faust in eine Bude, wo er auf den Teufel mit gleich zwei roten Riesenherzen stößt und auf ein junges Weib (Johanna Griebel), das kurzen Prozeß mit dem akademischen Grünschnabel macht. Welcher anderntags im Grundbuchamt jede Menge Aktenstaub einatmen muss, bevor ihn der Teufel da herausholt um ihn in einer Kneipe zu bearbeiten. Neunzehn Jahre und noch nichts für die Unsterblichkeit getan: da käme eine Revolution jetzt ganz gelegen. Doch diese spielt sich nur in Fausts Träumen ab, im Grunde seines Herzens bleibt der junge Mann ein Spießer. Da kann die Goldelse noch so löcken oder im Lunapark der Teufel mit der Jungfrau Maria (Laura Mitzkus) poussieren…
Mit dem jungen Weib, das wär‘ ‚was anderes aber die will verduften: Nach Tibet. Oder nach Indien. Bloß nicht so weita. Zwei verwandte Seelen demnach. Was der Teufel sogleich nutzt und Faust, als Frau verkleidet, in die Welt hinaus führt. Und auf den Mond, der schon die ganze Zeit als rote Scheibe mit Smiley-Gesicht über dem Erdenwallen steht, zu einer spiritistischen Sitzung mit Goethe und Napoleon. Um endlich wieder in Berlin zu landen, bei einem Dinner. Wo ein Mormone (Heinrich Buttchereit) so schnell wieder verschwindet wie er aufgetaucht ist. Und ein Bäckermeister (Alexander Ebeert) vom Dach des Hauses aus gemeinsam mit Faust auf die Lichter der Großstadt blickt.
Weshalb unser zunehmend verzweifelter Student ganz im Sinne des Publikums nach der Handlung fragt. Alles äußerst wirr. Es gibt keine fortlaufende Handlung mehr, antwortet der Teufel: Unser Dichter hat Fragmente lieber als ausgeschriebene Dramen. Dieser Eindruck hat sich freilich schon vor den drei Schlußszenen in uns festgesetzt, weshalb uns nichts mehr überraschen kann, die finale Höllenfahrt schon gar nicht. Wer das Tragische mit dem Komischen mischen kann, hat ein tieferes Lebensgefühl schreibt Georg Heym am Schluss seines Faust-Fragments. Bei Karge, in der Schlussapotheke mit Faust, versammeln sich alle samt der Jungfrau Maria in der Hölle. Und Faust gelangt zu der Erkenntnis: Die Unterwelt, sie gleicht zu sehr der Erde. Kein Entkommen, nirgends.