
Sie können einen Marmeladeerzeuger fragen, was alles in seiner Marmelade ist, aber einen Dichter nicht, was in seiner Dichtung ist.
Moritz Meister
Mit einem Beitrag zum Goethe-Jahr, dem Clavigo als blutiges Schauerdrama, endete die Spielzeit 1981/82 am Schauspielhaus Bochum wenig rühmlich, mit einem weiteren, freilich sehr viel harmloseren Schauerdrama wurde am 1. Oktober 1982 die neue Spielzeit eröffnet: Über allen Gipfeln ist Ruh von Thomas Bernhard, uraufgeführt Ende Juni des gleichen Jahres bei den Ludwigsburger Festspielen in der Inszenierung Alfred Kirchners.
Da sage noch einer, dem Thomas Bernhard fiele nichts Neues mehr ein. Zwar steht schon seit Immanuel Kant (1978) immer der gleiche Typus des philosophischen Schriftstellers oder des schriftstellernden Philosophen im Mittelpunkt seiner Stücke, aber heuer steht nicht eine stumme, leidende Dienerin dem Monstrum gegenüber, wie Edith Heerdegen dem Weltverbesserer Bernhard Minetti.
Sondern Moritz Meister, der sabbelnde Goethe-Verehrer und, so Bernhard, Goethe-Epigone, hat seine Meisterin gefunden in seiner Gattin Anne. Und so quasseln Traugott Buhre als ein selbstgefälliger Dichterfürst und Anneliese Römer als seine unbedarfte Gattin über Gott und die Welt, über die Kunst und das Dichten insbesondere, über Bienenzucht und Archäologie.
Denn Moritz Meister lebt in gutbürgerlichen Verhältnissen (wie der Geheimrat Johann Wolfgang von Goethe?), ist anerkannt, ja umschwärmt von typischen Vertretern des deutschen Bildungsbürgertums (ganz wie der Weimaraner?), personifiziert in einem Redakteur (Johann Adam Oest) und in einer Doktorandin (Angela Schmid). Moritz Meister schwadroniert über alles und nichts und dilettiert in Archäologie und Bienenzucht.
Ein Dichtertag um 1980, so der Untertitel, soll das Stück darstellen, es könnte einer um die Jahrhundertwende, vielleicht bis in die frühen Zwanziger Jahre sein. Aber dann hätte Bernhard u.a. auf unseren Bundespräsidenten Carstens verzichten müssen, und das hätte dem Bochumer Intendanten Claus Peymann wiederum nicht ins ideologische Konzept gepaßt.
Über allen Gipfeln ist Ruh ist mit Bernhard-Stücken wie Die Macht der Gewohnheit oder Die Jagdgesellschaft, zu deren Uraufführungen man ganz selbstverständlich ins Berliner Schiller-Theater pilgerte, nicht zu vergleichen. Bernhards Philippiken auf den Faschismus in uns, auf Dichter, Dichtung und ihre Vermarktung werden mit der Zeit stumpf. Nach zwanzig Minuten weiß man, wie alles endet. Weshalb die gut drei Stunden kaum enden wollen, trotz des Bochumer Schauspieleraufgebotes, zu dem auch Tana Schanzara als Hausgehilfin, Till Hoffmann als Briefträger und Wolfgang Höper als Verleger gehören.
In einigen Kritiken war anschließend nicht nur ganz richtig von plattem Boulevard die Rede, sondern von faschistischem Boden. Da wird sehr leichtfertig mit Vokabeln umgegangen, da halte ich es eher mit der Zeit: Ein Gruppenbild sanfter Idioten. Immerhin: Hermann Beils Programmheft beinhaltet nicht nur den Text des Stücks, sondern auch jede Menge Preis-Reden Thomas Bernhards. Und die sind wirklich ein Gedicht!