
Wir möchten Ihnen zum Schluß Die Tragödie von Hamlet, dem Prinzen von Dänemark von William Shakespeare in ganzer Länge vorstellen. Damit muten wir Ihnen eine Gesamtspieldauer von ca. sieben Stunden zu. Doch wir sind sicher, die unverzeihlichere Zumutung an Sie bestünde darin, das Stück durch auch nur geringfügigste Kürzungen zu verstümmeln und der von Shakespeare geschaffenen Vollkommenheit seiner Textgestalt und Ökonomie, vor allem aber seines Geistes, zu berauben. Dazu fühlten wir uns in keiner Weise berechtigt. Wenn Sie Geduld und Ausdauer für den ganzen Hamlet aufzubringen bereit sind, werden Sie eine Reihe von Szenen, die üblicherweise Strichen zum Opfer fallen, als kleine deutsche Erstaufführungen erleben und durch eine hoffentlich für Sie interessante Aufführung mit unserer Entscheidung versöhnt werden.
Frank-Patrick Steckel am 22. April 1995 in einem Brief an das Bochumer Publikum
Mit Sicherheit werde sein Hamlet eine reine Spieldauer, d.h. ohne Pausen, von sechs Stunden aufweisen, kündigte Bochums Schauspielhaus-Intendant Frank-Patrick Steckel zum Finale seiner Ära an der Königsallee an. Er habe sich nicht in der Lage gesehen, den Rotstift anzusetzen: Es gibt keinen überflüssigen Satz in diesem Stück. Er sei sich allerdings auch darüber klar, den Bochumer Theaterfreunden zum Abschluß seiner Intendanz ein Danaergeschenk machen zu können mit seinem langgehegten Traum, Hamlet ungekürzt zu inszenieren.
Da er auf absehbare Zeit kein eigenes Ensemble zur Verfügung habe, Steckel wird in der nächsten Spielzeit am Kölner Schauspiel und vielleicht auch in Berlin Regie führen, und mit Martin Feifel eine ideale Besetzung der Titelrolle aufbieten kann, mußte er diesen Versuch starten, auch wenn der Aufwand unverhältnismäßig hoch ist: nur ein Dutzend Vorstellungen sind bis zum Saisonschluß möglich, danach entschwindet Feifel zu Jürgen Flimm ans Hamburger Thalia-Theater und der Rest des Steckel-Ensembles verstreut sich in alle Windrichtungen mit nur ganz wenigen Ausnahmen. Zu denen naturgemäß Tana Schanzara gehört.
Ganze Bibliotheken, so Steckel im Presse-Vorgespräch, seien mit Shakespeare-Sekundärliteratur gefüllt, weshalb er sich für seine Inszenierung erst gar nicht darauf eingelassen habe. In den ersten vier Probewochen sei es um reine Textarbeit, um ausgiebige Leseproben gegangen. Da man zu diesem Zeitpunkt erst bis zum Ende des dritten Aktes vorgedrungen sei, habe er die Verschiebung der ursprünglich für den 20. Mai 1995 geplanten Premiere beschließen müssen auf Ende Mai. Mit dem Vorteil, daß Martin Feifel streßfreier zum Berliner Theatertreffen fahren konnte, bei dem Bochum heuer mit Eustaches Die Mama und die Hure vertreten ist.
Hamlet, so Steckel, stellt eine akribisch gründliche Entfaltung des Weltzustands dar, geht an die Wurzeln in allen Bereichen, sozial und politisch. Gordon Craig hatte 1910/11 am Moskauer Künstlertheater erstmals versucht, den ungekürzten Text auf die Bühne zu stemmen. Und war gescheitert, worauf er das Verdikt der Unspielbarkeit erließ. Steckel unternehme nun den zweiten Versuch, nachdem Klaus Michael Grüber vor Jahren an der Berliner Schaubühne mitten in der Probenphase dann doch zum Rotstift gegriffen hatte mit dem Resultat eines immer noch sechsstündigen Theatermarathons.
Steckel, der als junger Schauspieler einst an der Seite Maximilian Schells in der legendären Hamburger Hamlet-Inszenierung Gustaf Gründgens‘ auf den Brettern stand, hat das Mammutwerk mit 4.000 Zeilen, von denen vierzig Prozent allein auf den Titelhelden entfallen, neu übersetzt für eine eigene Fassung, die sich grundlegend von der romantischen Übersetzung August Wilhelm von Schlegels unterscheidet: Die Schauspieler können nun mit großer Selbstverständlichkeit sprechen, sodaß die Texte Shakespeares nicht abgelöst von den Personen wahrgenommen werden. Die deutsche Sprache besitze nicht die Vieldeutigkeit des Englischen, weshalb er auch zentrale Sätze wie Sein oder Nichtsein… umgekrempelt habe, dechiffriert wie die Entschlüsselung eines Codes. Steckel geht es um die Revolte gegen gängige Lesarten der Schlegel-Übersetzung, um das Zerbrechen von Klischees, welches ein neues Nachdenken ermöglicht. Wozu auch Andrea Schmidt-Futterers karge Ausstattung ihren Beitrag leistet: eine leere Bühne lenkt die volle Konzentration des Publikums auf die Schauspieler und damit auf den Text.
Nach Timon aus Athen sowie Antonius und Cleopatra nun also mit Hamlet seine dritte große Shakespeare-Inszenierung, von Steckel als Testament bewußt ans Ende seiner neunjährigen Bochumer Intendanz gesetzt auch vor dem Hintergrund des Fortfalls politischer Utopien und (sozialistischer) Alternativen im Nach-Wende-Deutschland. In der er freilich den Beweis schuldig geblieben ist für seine Behauptung, daß keine Zeile Shakespeares dem Rotstift zum Opfer fallen dürfe. Sechs Stunden (ohne Pausen) sind es am Ende geworden, die stehenden Ovationen eines Publikums, daß sich zu Recht fragt, ob es auch weiterhin so qualitätvolles Literatur- und Ensemblethater geben wird an der Kö unter dem Nachfolger Leander Haußmann, ragten freilich weit in die siebte hinein.
Einige Stühle bilden die einzigen Requisiten auf Andrea Schmidt-Futterers leergeräumter Bühne, dem von dreistufigen Treppen gesäumten Innenhof des Königspalastes, auf der einmal mehr Grautöne dominieren: die Kostüme knüpfen bewußt an Steckels Bochumer Einstand mit Hebbels Nibelungen an.
Martin Feifel in der Titelrolle, ganz ins Schwarz der Trauer gehüllt, ist grandios. Der junge, unter Steckel gereifte Schauspieler, ist nachdenklich und zögerlich, gleichzeitig leidenschaftlich und entzündbar, und doch auch wieder kühl und listig. Ein Dänenprinz, der seine Wirkung auf andere kennt und auszunutzen weiß. Sein Weggang ist für Bochum ein großer Verlust. Was nach seinem elektrisierenden, unter die Haut gehenden Dialog mit Bernadette Vonlanthens Gertrud unmittelbar vor der großen Pause sogleich thematisiert wird in den Foyers. Wie im übrigen auch das Theatertreffen-Gastspiel mit Die Mama und die Hure: zwei ausverkaufte Vorstellungen in den Kammerspielen des Deutschen Theaters waren ein großartiges Erlebnis für alle Beteiligten, darunter auch Anton Lohse, der mit der Kleinen Bühne Herne bald wieder im Kulturzentrum auf der Bühne steht in Woody Allens Gott.
Furioser Auftakt nach der Pause im vierten Akt: Martin Feifel als junger Rebell ohne jede Illusionen, rotzfrech und dazu noch mit einem Rest an kindlichem Trotz. Ihm gegenüber Katja Reinke, sie bleibt uns unter Leander Haußmann erhalten, als sehr jungmädchenhaft-naive Ophelia. Ein zerbrechliches Wesen: Jungfräulichkeit und Keuschheit, später Ausbruch des Wahnsinns aus Trauer um den Verlust ihres Vaters. Berührend die geschwisterliche Begegnung mit Ulrich Wiggers‘ Laertes.
Apropos Wiggers. Seine Fechtszenen mit Martin Feifel im fünften Akt können nur phantastisch genannt werden, Klaus Figges hartem Training sei dank, und wecken im Parkett noch einmal alle Geister. Feifels Hamlet ist beim finalen Gemetzel weniger von Schwermut als von listiger Verstellung gekennzeichnet. Welch‘ ein Schlachthaus. Der Rest ist Stille, nicht Schweigen.
Heiner Stadelmann gibt die Erscheinung, Hamlets Vater, mit befremdlich hoher Fistelstimme in silberglänzender Ritterrüstung. Was optisch und akustisch den Rahmen sprengt. Stadelmann ist später, an der Seite Karl-Heinz Tittelbachs, als Totengräber zu sehen: unverständlich, warum Steckel nicht mehr Kapital aus dem Potenzial dieses Schauspielers schlägt.
Oliver Nägele gibt Hamlets scheinbar treusorgenden Onkel Claudius als verunsicherten, nägelkauenden Despoten. Und muß den intriganten, über Leichen gehenden Dänenkönig im Verlauf der folgenden Stunden mit vielen kleinen szenischen Beitaten der Lächerlichkeit preisgeben. Wie Steckel überhaupt zwischendurch immer wieder bemüht ist, etwas Farbe ins einheitsgraue Spiel zu bringen, so mit dem Dumb-Show genannten Auftritt der Schauspieler vor versammelter Hofgesellschaft, welche die Ermordung von Hamlets Vater pantomimisch darstellen im Übertreibungs-Stil der commedia dell’arte.
Peter Roggisch ist der greise Staatsrat Polonius. Er gibt dieser Figur eigene Kontur, einen geradezu altertümlich anmutenden Charakter. Und bewegt sich so etwas außerhalb des ansonsten sehr geschlossen auftretenden Ensembles.
Der Wanne-Eickeler Volker Mosebach in seiner letzten Bochumer Produktion: exzessiv in mehreren kleineren, aber prägnant ausgestalteten Rollen. Darunter als Seemann mit Augenklappe und als Giftmörder im Theater auf dem Theater: Die Mausefalle. Eine Allegorie auf die Zeit an der Kö nach Steckel?
Aus dem vielköpfigen Ensemble noch zu nennen Rainer Sellien als Hamlets hier offenbar schwuler Vertrauter Horatio, Oliver Hasenfratz als Fortinbras, Ensemble-Senior Helmut Kraemer als Erster Schauspieler und Rainer Hauer, Protagonist in Giorgio Strehlers Wiener Pirandello-Inszenierung Die Riesen vom Berge, als Polonius-Bediensteter Reynaldo.
Wahnsinn mit Methode: Steckels Abschiedsgeschenk führt Menschen vor, keine neben ihrem Text stehenden Figuren. Eine Identifikationsdramaturgie aristotelischen Ausmaßes und gleichzeitig ein Plädoyer für das Theater als moralische Anstalt. Dazu paßt ein kleiner Seitenhieb auf den Nachfolger Leander Haußmann: Kleine Schreihälse sind jetzt am Theater in Mode gekommen, heißt es in Hamlets Gespräch mit Güldenstern (Andreas Domanski) und Rosencrantz (Thomas Wittmann).
Hamlets Solo ist ein Plädoyer für das Steckel-Theater der Aufklärung, das Wahrheiten aufdeckt und benennt ohne Rücksicht auf Erwartungen von Publikum und Politik. Dasein oder Nichtsein ist für Steckel keine Frage: in Bochum hat er ausgespielt. Und mit ihm das Tanztheater Reinhild Hoffmanns.
P.S. Soviel Lokalkolorit muß sein an einem denkwürdigen Abend: Im Publikum sehr viele Herner, neben Joachim Krol auch Stadtdirektor Heinz Drenseck. Der sich in einer Pause nicht nur zwei Bildbände von Steckel persönlich signieren ließ, sondern dem scheidenden Intendanten ausdrücklich für seine Arbeit an der Kö dankte. Eine noble Geste eines kunstsinnigen Mannes an der Spitze der Herner Politik, die zugleich seine Bochumer Genossen beschämt.
Die hatten sich nicht entblödet, in einer Presseerklärung der SPD-Ratsfraktion folgendes vorab über den Hamlet-Marathon zu äußern: Muß sich Herr Steckel mit einer so aufwendigen und auf die Person des Intendanten konzentrierte Inszenierung vom Bochumer Publikum verabschieden? Ganz gleich, welche besondere künstlerische Leistung Herr Steckel möglicherweise präsentieren wird, ist dies etwas zuviel Selbstdarstellung. Ist das noch zu toppen? Doch, von Hans Jansen in der WAZ. In einem am 22. Mai 1995 in dem Essener Blatt publizierten Brief an Frank-Patrick Steckel zur Verschiebung der Premiere heißt es: Und nicht alle Steuerzahler werden Verständnis für die Mehrkosten aufbringen, die der Aufschub vermutlich erfordert.