Ein Mann will ein Nachthemd kaufen. Nicht irgendeines und schon gar kein modisches, sondern ein Flanellnachthemd. Da muss die Ladenbesitzerin schon längere Zeit darüber nachdenken, ob sie ein solches Exemplar noch auf Lager hat. Ihre Hauptbeschäftigung scheint darin zu bestehen, an einem ungeheuren Kleidungsstück, in dem sie selbst steckt, zu stricken.
Auch sonst geschehen Anfang Juli 2004 merkwürdige Dinge auf der vielfach verschachtelten, einer überdimensionierten Puppenstube ähnelnden Bühne im intimen Bochumer Theater unter Tage. Eine Leiche wird hereingetragen, eine ganz in schwarz gekleidete Person mit drei Händen entflammt einen Tisch, eine dicke weiße Gans plustert sich rechterhand auf einem Möbelstück, ein schwarzer Schwan reckt seinen Hals und im Hintergrund tafelt eine barocke Festgesellschaft in besagten Flanellnachthemden…
Leonora Carrington (Jg. 1917), die surrealistische Malerin, Schriftstellerin (Unten, Das Höhrrohr) und Dramatikerin (Das Fest des Lamms), zeitweise Weggefährtin von Max Ernst, hat mit dem 1945 in Mexiko entstandenen Einakter Ein Flanellnachthemd ein auf wunderliche Weise skurriles Stück mit lauter schrägen (Traum-) Gestalten geschrieben.
Im Rahmen der ambitionierten Reihe Actors Studio wurde es zum Saisonfinale 2003/2004 von Marlin de Haan, seit der Jahrtausendwende Regieassistentin am Schauspielhaus Bochum, im Stil des Berliners Andrej Woron im TuT als Gesamtkunstwerk inszeniert mit Tana Schanzara, Johannes Zirner, Maja Beckmann und weiteren neun Darstellern.
Die Bühne (Steffi Dellmann, Tobias Schunck), ein nicht minder skurriler Einheitsraum, deutet ein Haus mit fünf Zimmern an, darunter das Wäschegeschäft von Dwyn (Tana Schanzara mit ungewohnter Blond-Perücke in sagenhaft rotem Outfit). Ist sie die keltische Göttin der Liebe und ihr Gast Nud (Johannes Zirner) der Gott der Heilung und des Wassers? Dann wäre der behinderte Junge (Benedikt Frey), der Dart-Pfeile solchermaßen auf eine Schaufensterpuppe wirft, dass die Zuschauer der ersten Reihe um ihre Gesundheit fürchten müssen, der walisische Unterwelt-Gott Arawn und Maja Beckmann die Hindu-Göttin der Erde und der Dunkelheit, Prisni.
Oder ist Dwyn einfach nur die Witwe des offenbar erst vor kurzem Ermordeten (Tobias Fritzsche), dann wäre sie die Mutter des wild aussehenden Jungen. Fragen über Fragen und keine Antworten ganz im Sinn der Autorin.
Dafür nimmt die ungeheure Bilderflut dieser choreographierten Traum-Symphonie ebenso gefangen wie die grandiose Live-Musik des mit Cello, Geige, Oboe und Percussions ungewöhnlich besetzten Instrumental-Trios Anwar Alam, Jörg Brinkmann und Karsten Riedel, zumal die Sängerin Juliane Reincke ihrer Weißen Gestalt berückende Töne entlockt (Liedtexte: Axel von Ernst).