Film und Realität gehen Hand in Hand, verhalten sich wie Ross und Reiter.
Pedro Almodóvar
Harry Caine (Lluís Homar), der als Drehbuchautor in Madrid lebt, scheut das Licht. Und seinen richtigen Namen, denn Caine ist nur ein Pseudonym, unter dem er seine literarischen Arbeiten herausbringt. Das hat mit einem schweren Autounfall zu tun, der sich vor vierzehn Jahren auf der Kanareninsel Lanzarote zutrug. Dabei verlor Caine nicht nur sein Augenlicht, sondern auch Lena die Liebe seines Lebens.
Seinen richtigen Namen, Mateo Blanco, unter dem ihn die Welt als erfolgreichen Filmemacher kennt, hat er abgelegt. Weil er nach dem Unfall keine Filme mehr drehen kann und weil er es sich in der Vorstellung, als Mateo zusammen mit Lena auf Lanzarote gestorben zu sein, eingerichtet hat. Harry will das Leben nur noch genießen, ist als Autor sehr produktiv und kommt auch so ganz gut zurecht im Leben. Was vor allem an seiner ehemaligen Produktionsleiterin Judit (Blanca Portillo) liegt, die ihn als Agentin vertritt und ihm zusammen mit ihrem Sohn Diego (Tamar Novas) durch den Alltag hilft.
Eines Nachts erleidet Diego in Abwesenheit seiner Mutter, die außerhalb Madrids zu tun hat, einen durch Drogen verursachten Unfall in einer Disco und Harry beherbergt ihn in seinem Gästezimmer, um ihn daheim pflegen zu können. Diego erholt sich rasch und beide kommen sich freundschaftlich näher. Es gelingt Diego sogar, Harry dazu zu bringen, aus seiner Vergangenheit als Mateo Blanco zu erzählen. Es kommt jedoch alles andere als eine harmlose Gutenacht-Geschichte dabei heraus.
Schon beim Casting für seinen Film Frauen und Koffer verliebt sich der junge Regisseur Mateo Blanco (Lluís Homar) leidenschaftlich in die wunderschöne Hauptdarstellerin Lena Rivero (Penélope Cruz). Eine gefährliche Leidenschaft, denn Lena ist mit dem wesentlich älteren Finanztycoon Ernesto Martel liiert (José Luis Gómez, der seine Ausbildung an der Westfälischen Schauspielschule Bochum absolvierte, kennen wir hierzulande als Leiter des Madrider Teatro de la Abadía von Co-Produktionen mit Hansgünther Heymes Ruhrfestspielen).
Martel produziert nicht nur den Film, sondern läßt durch seinen Sohn auch jeden Schritt Lenas argwöhnisch überwachen. Zudem reagiert auch Mateos Produktionsleiterin Judit, die Jahre zuvor mit Mateo eine Affäre hatte, eifersüchtig. Die Lage spitzt sich bei den Dreharbeiten immer weiter zu und gipfelt in einem tragischen Autounfall…
Als ein gewisser Ray X (Rubén Ochandiano) bei Harry vorstellig wird, der mit ihm ein Filmprojekt realisieren möchte, kommt ihm der junge Mann seltsam bekannt vor. Plötzlich werden in Harry alte Erinnerungen geweckt, aus einer Vergangenheit, die er eigentlich vergessen wollte, die jedoch nun unverhofft und mit unaufhaltsamer Kraft wieder heraufdämmert…
Mit einer dramatischen Liebesgeschichte im Stil des film noir kehrt der Meister des Melodrams, Pedro Almodóvar, nach La mala educación (2004) und Volver (2006) auf die internationale Bühne zurück. Und mit der großartigen Penélope Cruz steht wieder eine vom Schicksal zum Unglück verdammte Frau im Zentrum seines virtuos verschachtelten Spiegelkabinetts, bei dem Realität und Fiktion immer wieder äußerst kunstvoll ineinander übergehen und miteinander verschmelzen.
Zerrissene Umarmungen, der 17. Kinofilm des Spaniers, ist eine große, ja großartige Hommage an das Kino, eine 128 minütige wahre Fundgrube für Cineasten. Und trägt, das hat der Regisseur offen bekundet, nicht zuletzt in Anspielungen auf die Filmgeschichte wie Roberto Rosselinis Viaggio in Italia mit einer von den Ausgrabungen in Pompeji überwältigten Ingrid Bergman an der Seite George Sanders (ein vom Ausbruch des Vesuv überraschtes, eng umschlungenes Liebespaar wird zum Menetekel der eigenen Beziehung) wie auf das eigene Werk (Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs) autobiographische Züge, was bereits beim Pseudonym des blinden Filmemachers beginnt: Der Name Harry Caine ist wie ein Witz, den ich schon lange mit mir herumtrage. Er verrät das Bedürfnis, wiedergeboren zu werden. Den Druck wegzunehmen, den ich habe. Eine Frische zurückzugewinnen.
Vor allem aber ist Zerrissene Umarmungen eine in dieser die Genres sprengenden Form bisher singuläre Mischung aus spannendem schwarzen Thriller und zu Herzen gehendem Melodram, in leuchtende Farben gehüllt von Rodigo Prietos Kamera. Mateo, Ernesto und Lena werden, so der Regisseur selbst, von ihren obsessiven Begierden geleitet, und einer von ihnen ist mächtig, grausam und ohne jede Skrupel. Damit ist der große Knall vorgezeichnet, die Lunte brennt bereits. Das Quartett komplettiert Judit, welche das explosive Beziehungsgeflecht mit den Elementen Eifersucht, Verrat, verdrängte Schuld und einem verheimlichten Sohn noch weiter verschärft.
Pedro Almodóvar (Buch und Regie)
Zerrissene Umarmungen (Los abrazos rotos)
Universal Pictures, Focus Features, Esther García Prod. c/o tve, canal + Espana Spanien 2009