Es ist nicht leicht für den Zuschauer, das Stück verlangt ein offenes Ohr.
Rolf Winkelgrund
Ort des Geschehens ist ein Garten über einer nicht näher bezeichneten Stadt. Lambert de Besme (nachdenklicher Politiker: Wolf Redl), ein Philosoph, und Avare (Revoluzzer ohne jedes Charisma: Gustav-Peter Wöhler), ein Anarchist, reden über gesellschaftliche Ordnungen. Der eine spricht über die Arbeit als Eckpfeiler aller menschlichen Existenz, der andere über die Entfremdung des Menschen durch seine Arbeit.
Weitere Personen kommen hinzu: der Dichter Coeuvre (romantisch: Oliver Nägele) und der Technokrat Isidor de Besme (schwermütiger Nihilist: Jochen Tovote), Lamberts Bruder, der sich die Stadt untertan gemacht hat. Lala (Angela Schmid) ist das einzige weibliche Wesen in der Männerrunde hoch über der Stadt. Das Mündel Lamberts schwankt zwischen Dankbarkeit und väterlicher Zuneigung zu Lambert und ihrer heftig ausbrechenden Liebe zu Coeuvre, den sie schließlich heiratet. Ihr gemeinsamer Sohn heißt Ivors.
Avare schürt die Revolution, sät Haß und Zerstörung. Die reichen Bürger wenden sich hilfesuchend an Lambert, doch der zieht sich, von Lala verschmäht, zurück und schachtet auf dem Friedhof Gräber aus. Wohin Lala ihm folgt, jetzt ihrerseits verschmäht von Lambert. Nachdem dieser gestorben ist, wirft sich Lala dem Anarchisten Avare in die Arme.
Die Revolution bricht aus, Isidor wird getötet und die Stadt verwüstet. Doch Avare will von seiner frisch gewonnenen Macht nichts wissen, übergibt sie dem jungen Ivors. Da taucht der Dichter Coeuvre auf - in bischöflichem Ornat und mit großem Gefolge. Er hat in Gott seinen Herrn gefunden und weist den Revolutionären den rechten Weg - zum Glauben wie zum Aufbau einer neuen, besseren Stadt. Ivors (Stephan Ullrich) wird die neue göttliche Ordnung errichten - und unterwirft sich dem Dogma des Papstes...
Der "Shakespeare Frankreichs", wie Paul Claudel (1868 - 1955) in seiner Heimat ehrfurchtsvoll genannt wird, ist seit den Sechziger Jahren von den deutschen Bühnen verschwunden. Anderswo ist das nicht der Fall, etwa in Zürich, wo zuletzt "Das harte Brot" herausgekommen ist oder in Paris, wo kein Geringerer als Bernard Sobel "La Ville" inszenierte.
Insofern ist die Deutsche Erstaufführung eines neunzig Jahre alten Stücks Claudels, "Die Stadt", am 5. Juni 1992 in den Bochumer Kammerspielen, ein Ereignis von überregionaler Bedeutung. Regisseur ist Rolf Winkelgrund, der hier zuletzt, als seine Heimat nicht nur im geographischen Sinne, die DDR, noch existierte, mit Sean O'Caseys "Purpurstaub" und einem herausragenden Traugott Buhre einen großen Erfolg feierte.
Der sich, siehe das einleitende Zitat des Regisseurs aus dem Presse-Vorgespräch, nicht so einfach wiederholen läßt, obwohl er und die Dramaturgin Gabriele Groenewold "freudig und erschrocken" festgestellt haben, wie aktuell das Stück noch immer ist, "wie prophetisch das war". Claudel beschreibe den Verfall, die Vernichtung und den Neuaufbau einer Stadt - unter dem Aspekt seiner starken Beziehung zur Religion, als Franzose naturgemäß zur papistischen Kirche. Weshalb derjenige, der von vornherein frage: "Was soll der katholische Scheiß?" mit Claudel und seinem Werk "natürlich nicht klarkomme".
Claudel hat den symbolistischen Dreiakter "La ville" 1890 im Alter von 22 Jahren als glühender Expressionist mit dem Haß auf den im Zuge der Industrialisierung alles verschlingenden Moloch Großstadt geschrieben, die der Bochumer Inszenierung zugrunde liegende zweite Fassung mit 29 Jahren, drei Jahre nach seinem Bekehrungserlebnis in Notre-Dame. Mit der Stadt, die als Sodom und Gomorrha dem Untergang geweiht ist, die Claudel als persönlichen Feind beschreibt, ist daher wohl Paris gemeint. Diese zweite, erheblich kürzere Fassung ist 1931 in Brüssel uraufgeführt worden, war in Frankreich aber erst 1978, zur Feier von Claudels hundertstem Geburtstag, im Park von Chateau Brangues, dem Alterssitz des Dramatikers, erstmals zu sehen gewesen.
Es ist der Anarchist Avare, der die Stadt zerstört. Einst war Claudel glühender Anhänger der Ravachol, Henry und all' der anderen Attentäter. Nun, nach seiner Gotteserleuchtung, macht er auch mit sich selbst reinen Tisch. Die schuldige Stadt muß vom Erdboden getilgt werden, ein neuer Gottesstaat an ihrer Stelle entstehen.
Was fängt man anno 1992 und damit nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Utopie, der Bochums Intendant Frank-Patrick Steckel, dessen Brecht-Wiederbelebung "Der gute Mensch von Sezuan" nicht zufällig in unmittelbarer zeitlicher Nähe zur Claudel-Ausgrabung Premiere feiert, ebenso nachtrauert wie der überzeugte DDR-Bürger Rolf Winkelgrund, mit einem solchen Stoff an? Die Stadt kommt in Bochum ebensowenig vor wie ihre auf zwei Abgesandte beschränkten Bürger. Auf der Bühne Achim Römers findet ein Diskurs statt, und die Teilnehmer des Diskurses sind Thesenträger, keine Menschen aus Fleisch und Blut.
Diskurs auf dem Diskus (in der Übersetzung von Edwin Maria Landau): Roter Horizontbogen, darunter eine flache Diskusscheibe. Kirchliches Weltbild vor Galilei. Theater ohne Kulissen, fast ohne Requisiten. Abstraktes Thesentheater, mehr als drei Stunden lang, die selbst am Premierenabend viele Besucher nicht durchstanden: der Text steht nackt und bloß im Raum, die wie lange Monologe daherkommenden Dialoge verlangen die volle Konzentration des Publikums. These und Antithese, Konsum und Materialismus versus Sozialismus- oder Katholizismus-Utopie. Die Disputanten schweben auf der Weltenscheibe über den lästigen Notwendigkeiten des Alltags: auf dem Olymp wird schön gesprochen - und vieles richtig gesehen. Aber es bleibt der Olymp.
Angela Schmid als Lala: im weißen Gewand der Unbefleckten tritt sie als unschuldiges Mündel auf, um danach, als Mutter von Ivors und wechselnde Geliebte fast aller Protagonisten, in flammendem Rot gewandet zu erscheinen (ein-eindeutige Farbsymbolik: Andrea Schmidt-Futterer).
Gustav-Peter Wöhler als Anarchist mit Schlips und Kragen im Gehrock: Avare stellt im zweiten Akt die richtigen Fragen, kommt aber, eine deutliche Parallele zum Brechtschen "Sezuan", der am folgenden Tag, dem 6. Juni 1992, im Schauspielhaus Premiere feierte, zu falschen Antworten. In Gefahr und höchster Not, das lehrt uns die Geschichte, bringt der lange, beschwerliche, zeit- und nerveraubende Mittelweg nicht den Tod. Leider ist dieser bessere Weg den meisten zu mühsam!
Pitt Herrmann
Paul Claudel
Die Stadt (La ville)
Schauspielhaus Bochum, Kammerspiele