Stefan Zöllner: "Ich dachte, Ihr Programmierer seid so lichtscheue Nerds! Zweiundsiebzig Stunden am Rechner, kein Tageslicht, aber zentnerweise Pizza."
Thomas Jacobi: "Und ich dachte, ihr Schauspieler liegt den ganzen Tag zugedröhnt im Bett, wälzt euch abends ein bisschen in künstlichem Schweineblut, kokst euch dann zu und bumst in Rudel."
Stefan Zöllner: "Eine ziemlich genaue Beschreibung meines Lebens."
Thomas Jacobi: "Ich wusste, ich mache was falsch."
Frank Goosen: Sommerfest
Einen Tag, bevor im Rahmen des Kulturhauptstadtjahrs die zur A 40 mutierte B 1 auf sechzig Kilometer zur längsten Kaffeetafel wird, oder auch Theke, je nach Sichtweise und Bollerwagen-Inhalt, kommt Stefan Zöllner nach Bochum. Also nach Hause, wo sich der an der Isar engagierte Schauspieler schon zehn Jahre nicht mehr hat blicken lassen. Trotz seiner geliebten Omma Luise, die 86-jährig in einem Heim lebt, aber noch ganz krekel ist, zumal im Kopf.
Stefan hat die Schauspielschule Bochum absolviert und gleich sein erstes Engagement am Schauspielhaus seiner Geburtsstadt bekommen - irgendwann musste er weg von daheim. Was sicherlich auch mit einer gewissen Charlotte "Charlie" Abromeit zu tun hatte, seiner Sandkastenfreundin. Als sie sich den ersten Kuss gaben, bebte die Erde. Im wörtlichen Sinn: Tagesbruch.
An Onkel Hermanns Beerdigung hat er schon nicht teilnehmen können, nun will er sein eigenes Elternhaus, in dem der Verstorbene gewohnt hat, verkaufen: "Er will nicht hier sein", sagt der Erzähler in Frank Goosens 2012 bei Kiepenheuer + Witsch erschienenem Roman "Sommerfest", "aber es geht nun mal nicht anders, und es ist nur ein Wochenende." Hat Stefan jedenfalls seiner "durchgeknallten Fast-Exfreundin" Anka versprochen, die er partout nicht mitnehmen wollte ins Revier.
"Schnell rein, schnell raus, keine Gefangenen": Stefans Plan ist bereits Makulatur, als er, ermüdet von der langen Zugfahrt, an der Bude von Tante Änne Brötchen holt fürs gemeinsame Frühstück mit Omma Luise. Ännes Urenkel Thorsten "Toto" Starek steht am Tresen - und schon hat er die ganze Halbwelt-Bagage um das "Arschloch in vierter Generation", Dirk "Diggo" Decker, am Hals. Was Stefan erst mal von der gelassenen Seite nimmt: "So ein Heimaturlaub ist auf jeden Fall eine gute Gelegenheit, sein Reservoire an Floskeln aufzufrischen."
Ihm bleibt ja noch der Termin mit dem Makler, der sich um das arg renovierungsbedürftige Zechenhaus kümmern soll. Da sein Vertrag am Theater nicht verlängert worden ist, muss er am Montag in München sein, um einen Vorsprechtermin für eine TV-Vorabendserie wahrnehmen zu können. Eigentlich gar nicht sein Ding, aber Garant für ein regelmäßiges Einkommen.
Ein Besuch in der idyllisch am Stadtpark gelegenen Jugendstilvilla seines Kumpels und einstigen Fußball-Mannschaftskollegen Frank Tenholt, Historiker und Leiter eines Bochumer Zechen-Museums, wo dessen Großvater noch unter Tage malocht hat, ist dagegen fest eingeplant. Zumal er auch dessen Gattin, die schöne Karin, schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen hat. Dafür hat sogar Toto, der ansonsten Stefan vollkommen in Beschlag zu nehmen gedenkt, vollstes Verständnis: "Geile Hütte, geile Olle."
Beim Sportfest der Spielvereinigung kommen dann alle zusammen - und Stefan lässt den Makler-Termin platzen. Charlie trägt noch immer das Lederarmband, dass er ihr vor Urzeiten am Rhein-Herne-Kanal in Wanne-Eickel geschenkt hat. Die "Provinzsirene" Mandy, als "gepiercte Zwanzigjährige" die wesentlich jüngere Freundin von Thomas Jacobi, spricht es aus, was alle denken: Stefan und Charlie wären das "Liebespaar des Jahrhunderts". Doch die Königskinder wollen zueinander nicht kommen. "Bist du glücklich?" fragt sie - und Stefan weiß darauf so recht keine Antwort. Da muss Charlie die Sache selbst in die Hand nehmen: "Pass mal auf, Kollege, ich weiß nicht, wie du das siehst, aber ich finde, wir müssen reden." Und zwar in der Laube ihrer Eltern.
"Wir finden sowieso niemanden, der besser zu uns passt als der jeweils andere" stellt Charlie ganz richtig fest. Sie will das "Haus Rabe" reaktivieren - und Stefan soll sich um den Kleinkunst-Bereich im Hinterzimmer kümmern. Die Wohnung drüber reicht für alle drei - einschließlich ihres fünfjährigen Sohnes Alex. Nun ist es raus, und Stefan sprachlos. Stiefvater, das ist zuviel für ihn: "Man steigt nicht mit seiner Schwester ins Bett, und wenn man es doch tut, kann man hinterher nicht so tun, als sei nichts passiert." Am anderen Tag steigt die Ruhr 2010-Fete mit Omma Luise und all' den anderen...
"Solche Schtories die liegen hier praktisch auffe Straße" (Toto): Frank Goosens Ruhrpott-Romane sind bezüglich des authentischen Lokalkolorits, des gradlinig-lakonischen Humors und der plastischen Erzählweise geradezu, um bei der Fußballersprache des zeitweiligen VfL Bochum-Präsidiumsmitglieds zu bleiben, Steilvorlagen für Bühnen- und Filmadaptionen. Nach "Liegen lernen" wird gerade u.a. in Bochum, Mülheim/Ruhr und Köln "Sommerfest" verfilmt - von Sönke Wortmann mit dem in Bochum aufgewachsenen und seit geraumer Zeit in Berlin lebenden neuen "Polizeiruf 110"-Kommissar Lucas Gregorowicz, der auf der Kino-Leinwand gerade in "Schrotten" zu sehen ist, als Stefan Zöllner.
In der Bühnenadaption von Frank Weiß, deren Uraufführung am 3. Juni 2016 im Bochumer Prinz Regent Theater nach einhundert Minuten mit nicht enden wollenden Ovationen des restlos begeisterten Publikums für das dreiköpfige Ensemble, die Regisseurin Romy Schmidt und nicht zuletzt die Ausstatterin Sandra Schuck gefeiert wurde, übernimmt Jost Grix den Part des Bochum-Heimkehrers Stefan Zöllner. Links das Bonanza-Fahrrad mit Fuchsschwanz für die Rückblenden, dahinter eine dicht behängte Wäschespinne: Sie dient den beiden Grix-Mitstreitern Nermina Kukic und Thomas Kemper als Kostümfundus für ihre zahllosen, in rastellihafter Geschwindigkeit vollzogenen Rollenwechsel. Rechts flankieren farbige Lampions über Gartenstühlen das Zentrum der Bühne, ein Spiel-Haus auf Rollen, das sich von Stefans Elternhaus flugs in Tante Ännes Bude verwandelt oder in die Abromeitsche Gartenlaube.
Als müsste Frank Weiß, der überaus erfolgreiche TV-Sitcom-Entwickler, Dramaturg ("Die Verwandlung" und "Peer Gynt" am PRT) und Regisseur ("Bilder einer großen Liebe" am PRT), sich selbst und anderen noch etwas beweisen, wuselt zu Beginn ein Bergbau-Zwerg mit Wichtelmütze wie aus einem Adolf-Winkelmann-Film durch die Kulisse, spricht Edmund Stoiber aus dem Off über die Auswilderung von Bären im Bayerischen Wald und Jost Grix rezitiert "Weh dem der keine Heimat hat" von Friedrich Nietzsche. Es bleibt zum Glück bei diesen wenigen Fremdtexten, die nichts kaputt machen, aber zu "Sommerfest" auch nichts Erhellendes beitragen.
Thomas Kemper, für mich die Entdeckung dieses kurzweiligen, 'mal derb-komischen, 'mal warmherzig-sentimentalen und zum Schluss herrlich kitschigen Abends, der sich dann doch bei allem notwendigen Rotstift-Einsatz eng an die Romanvorlage hält, gibt in Trainingshose und Unterhemd den Erzähler und Nermina Kukics Charlie winkt schon 'mal aus der Ferne: die Prinz-Regent-Intendantin Romy Schmidt fokussiert von Beginn an auf die problematische Zweierkiste des sich vor Entscheidungen drückenden Dauer-Jugendlichen Stefan und der in den letzten Jahren recht unfreiwillig erwachsen gewordenen alleinerziehenden Mutter Charlie.
Alle anderen, zum Teil wunderbar gegen den Strich besetzten Figuren wie Omma Luise, Toto und Frank Tenholt (Kemper), Tante Änne, Karin und Diggo (Kukic) kreisen wie Trabanten um das Protagonistenpaar - und der überragende Thomas Kemper verkörpert so etwas wie das gute Gewissen der beiden Königskinder. Die am Ende, anders als im diesbezüglich geradezu nervenaufreibenden Roman, dann doch zueinander kommen als wärs das erste und nicht das tausendste Mal: "You'll Never Walk Alone" als Schnulze passt zu dieser märchenhaft inszenierten Liebesgeschichte wie zur beginnenden Fußball-EM.
Es wäre noch so viel zu loben an dieser Produktion, die mit ihren theatralischen Effekten den Roman zu übersteigern sucht, wie eine famose Slapstick-Einlage von Jost Grix, der bajuwarische Einschlag in Ankas Stimme bei ihren Anrufen aus München, Günther Pohls Live-Übertragung oder die in Rotlicht getauchte Laube beim ersten Mal zu Serge Gainsbourgs "Je t'aime ... Moi non plus", aber alles sollte dann doch nicht preisgegeben werden. Die nächsten Vorstellungen: Am 10., 11., 17., 18. und 19. Juni 2016 jeweils um 19.30 Uhr, Karten unter www.prinzregenttheater.de oder Tel. 0234 - 77 11 17.
Pitt Herrmann
Frank Weiß (Bühnenfassung) nach dem gleichnamigen Roman von Frank Goosen
Sommerfest
Prinz Regent Theater Bochum