Wir leben in einer seltsamen Zeit. Heute fällt es den Leuten schwer, an Helden zu glauben. Ich habe als Schauspieler schon viele Anti-Helden verkörpert. Die kommen beim Publikum gut an, was nicht weiter verwundert, weil viele Zuschauer ja selbst desillusioniert sind. "Am Sonntag bist du tot" schwimmt gegen den Strom. Es ist fast schon revolutionär, einen unbescholtenen Priester, der nur Gutes tun will, ins Zentrum zu rücken. Die Dreharbeiten waren für mich emotional und unbarmherzig. Wenn man eine Figur spielt, die ständig angegriffen wird und sich für die Sünden anderer Menschen opfern soll, braucht man ein dickes Fell.
Brendan Gleeson
"Ich habe mit sieben Jahren erstmals Samen geschluckt" erfährt der Dorfpriester James Lavelle (grandios: Brendan Gleeson) im Beichtstuhl seiner kleinen Holzkirche. Die sich sonntags mit den skurrilsten und in den seltensten Fällen liebenswert-verrückten Bewohnern füllt, die wir in den folgenden gut einhundert Minuten näher kennenlernen. "In der Tat eine alarmierende Eröffnung" findet Lavelle.
Der bald noch viel stärker getroffen ist. Nicht von den weiteren Erklärungen des für den Zuschauer unsichtbaren, dem Priester aber offenbar bekannten Mannes, nach denen dieser über fünf Jahre lang von dem damaligen und längst verstorbenen Ortsgeistlichen vergewaltigt und zum oralen wie analen Sex gezwungen worden ist. Sondern von der Androhung des Beichtenden, sich nun am amtierenden Pfarrer rächen zu wollen: "Einen guten Priester töten, das wär' doch 'mal eine Sache!"
Am kommenden Sonntag solle Lavelle an den Strand kommen, dann werde er sein persönliches Golgatha (engl. Calvary) erleben. In den sieben Tagen zuvor könne er ja noch seine persönlichen Dinge regeln. Zu denen als erstes seine Tochter Fiona (Kelly Reilly) gehört, die er nach dem Tod seiner Gattin und nach seiner Berufung zum Diener Gottes allein in London zurückgelassen hat. Als die attraktive, aber seit Jahren manisch-depressive Fiona im Nordwesten Irlands eintrifft, Kameramann Larry Smith zeigt die karge, raue Felsküste der Grafschaft Sligo in grandiosen Panoramaaufnahmen aus der Vogelperspektive, weist ihr bandagiertes Handgelenk auf gewaltsam geöffnete Pulsadern hin - offenbar nicht ihr erster Suizidversuch.
"Ireland's Wild Wild West" lautet die Schlagzeile der Sunday Times, die Lavelle in aller Seelenruhe zur Hand nimmt, als nehme er die Bedrohung nicht ernst. Zu Fiona sagt er kein Wort und auch gegenüber seinem Vorgesetzten, Bischof Montgomery (David McSavage), wird er wenig konkret: Der ist ganz offensichtlich nur daran interessiert, der Heiligen Mutter Kirche jeden (weiteren) Skandal zu ersparen. James Lavelle nimmt auch in den folgenden Tagen, die in Dokfilm-Manier chronologisch eingeblendet werden, seine seelsorgerischen Aufgaben wichtiger als die persönliche Bedrohung.
Lavelle, der mit seinem in die Jahre gekommenen Hund Bruno in einer kargen Klause lebt, will das Beichtgeheimnis wahren, obwohl ihm der in einem prunkvollen Palast residierende Bischof versichert hat, dass bei fehlender Bitte um und fehlender Erteilung der Absolution von Geheimnispflicht keine Rede sein kann. Wie gewohnt fährt Lavelle in seinem roten Saab-Cabrio übers Land, nun häufiger in Begleitung seiner Tochter, und mischt sich ein. Was hier auf der Insel nicht immer gut ankommt.
Im Gottesdienst hat James Lavelle das mit einer Sonnenbrille bedeckte "Veilchen" Veronicas (Orla O'Rourke) entdeckt und stellt nun sowohl den Gatten, den Metzger Jack Brennan (Chris O'Dowd), als auch ihren Liebhaber, den von der Elfenbeinküste stammenden Automechaniker Simon Asamoah (Isaack de Banhole) zur Rede. Die beiden gläubigen Katholiken verbitten sich die Intervention des Geistlichen: Die liebessüchtig-nymphomanische Veronica, schillerndste weibliche Figur der ganzen Grafschaft, habe zahllose Liebhaber und stehe überdies auf harten Sex.
Einmal in der Woche fährt Lavelle mit dem Boot hinaus auf eine kleine Insel zum einsiedlerisch lebenden amerikanischen Schriftsteller Gerald Ryan (M. Emmet Walsh), der jedes Jahr ein Buch schreibt und ansonsten mit der Welt abgeschlossen hat. Er bringt ihm Lebensmittel und geistige Nahrung, ist von der pessimistischen Lebenseinstellung des Intellektuellen jedoch abgestoßen. Was auch auf den wohlhabenden, von der Familie verlassenen und daher in seinem vornehmen Anwesen höchst einsamen Landadligen Michael Fitzgerald (Dylan Moran) gilt, einem erfolgreichen Broker, der aus lauter Lebensüberdruss in einem Moment auf ein Ahnengemälde pinkelt in Gegenwart des Priesters und im nächsten Augenblick der Kirche eine Spende von 100.000 Euro verspricht.
Was diese gerade gut gebrauchen kann, denn zur Wochenmitte hin haben sich die Eskalationsstufen verstärkt. Erst hat Lavelle seinen geliebten Vierbeiner mit durchgeschnittener Kehle im Garten gefunden, dann steht er vor den verkohlten Resten seiner völlig heruntergebrannten Kirche. Auch in der Bar von Brendan Lynch (Pat Shortt) kommt es zu einer gewalttätigen Auseinandersetzung unter den Augen des schwulen Ortssheriffs Garry Stanton (Gary Lydon) und seines Gay Boys Leo McArthur (Owen Sharpe): die sich als gläubig verstehende Katholiken bringen körperlich zum Ausdruck, dass sie mit der Institution Kirche und ihren Vertretern nichts am Hut haben.
Weshalb der zweite Geistliche am Ort, Father Timothy Leary (David Wilmot), am Samstag seinen Hut nimmt, zumal der junge, noch reichlich unbeholfene Priester die Kritik Lavelles an seiner laschen Einstellung nicht verträgt. Auch sonst lernen wir auf der "Grünen Insel" nur zutiefst gestörte Menschen kennen, vom herzlos-zynischen Arzt Dr. Frank Harte (Aidan Gillen) über den jungen, kontaktscheuen Milo Herlihy (Killian Scott), der darunter leidet, noch immer nicht mit einer Frau geschlafen zu haben und jetzt den Militärdienst als Ultima Ratio zur Mannwerdung ansieht, bis hin zum in etwa gleichaltrigen mehrfachen Mädchenmörder Freddie Joyce (Domhnall Gleeson), den Lavelle - als seinen einstigen Schüler - im Gefängnis besucht.
Die einzige Ausnahme, die dem Priester die ganze Woche über mit gleichbleibender Freundlichkeit, ja Sympathie begegnet, ist die junge französische Witwe Teresa Robert (Marie-Josee Croze), die ihren Gatten bei einem Autounfall verloren hat und seinen Leichnam nun in dessen italienische Heimat überführt. Und dann kommt "der" Sonntag. Fitzgerald ist der erste, den Lavelle am Strand (gedreht wurde in Streedagh) zu Gesicht bekommt. Aber nicht das Opfer, das nun zum rächenden Täter wird...
"Am Sonntag bist du tot", im Januar 2014 beim Sundance Film Festival in Salt Lake City uraufgeführt und 2015 mit einem "Oscar" für den besten Song ("Glory" von Patrick Cassidy) ausgezeichnet, ist ein hochkarätig besetzter "Western", der in manchen Gewaltszenen an die kaum zu ertragende Intensität der Coen-Brüder erinnert. John Michael McDonagh zeichnet ein vielschichtiges Bild eines katholischen Priesters, der aus seiner Vergangenheit heraus mit beiden Beinen im Leben steht und dennoch zur Zielscheibe völlig wahnwitziger persönlicher Attacken wird.
"Calvary" zeichnet ein zutiefst horribles Bild der irischen Gesellschaft, die mit der Politik und der korrupten Bankenwelt ebenso hadert wie mit der völlig realitätsfernen Institution Kirche. Die nicht ohne Situationskomik geschilderte Gnadenlosigkeit der Inselbewohner hinterlässt ebenso wie der durch nichts zu rechtfertigende brutale Mord am Gutmenschen Lavelle nur Ratlosigkeit. Was auch für das verstörende Ende dieser aus meinen Augen sehr mittelalterlich-gewalttätigen statt wie von den "Kirchen und Kino"-Machern behauptet christlichen Auseinandersetzung um Schuld, Sühne und Vergebung gilt: Lavelles Tochter Fiona besucht Jack Brennan im Gefängnis. Als beide die Hörer der Sprechanlage ans Ohr halten, ist das kapp zweistündige Drama, das sowohl beim Sundance Festival als auch auf der Berlinale 2014 für Furore sorgte, abrupt zu Ende.
Pitt Herrmann
John Michael McDonagh
Am Sonntag bist du tot (Calvary)
Reprisal Films, Octagon Films, Chris Clark, Flora Fernandez-Marengo, James Flynn Prod. - Irland/Großbritannien 2014