Peer Gynt, das große Kind, der Lügner, Träumer, Egoist, Hedonist und Hochstapler wirft sich mit aller Gewalt ins Leben. Aus tiefer Armut heraus will er "Kaiser werden in aller Welt, nur mit seinem Geld". Dafür ist er bereit, alles zu geben. Seine Träume, seine Sehnsucht, sein Herz. Die Versuchung lautet: Sei dir selbst genug. Die Herausforderung: Sei du selbst. Bleibt Peer Mensch und er selbst oder fällt er der Vertrollisierung der Gesellschaft anheim? Übergibt er sein Ich dem Markt und landet damit in der banalen Mittelmäßigkeit? Und in der Kelle des Knopfgießers? Der Markt ist überschwemmt mit Antworten. Und am Schluss bleibt einem doch nichts als die eigene Antwort mit anzubieten. Aber ist das nicht alles furchtbar anstrengend? Ist es da vielleicht besser, am Ende des Tages in irgendeiner Halle des nächstbesten Trollkönigs ein bisschen Spaß gehabt zu haben?
Frank Weiß, Dramaturg der Inszenierung Romy Schmidts und Autor der PRT-Bühnenfassung
Wer wie die neue Intendantin des Bochumer Prinz Regent Theaters, Romy Schmidt, ihre erste Spielzeit unter das Motto "Revier für Helden/Heldinnen" stellt und zum Auftakt am 18. September 2015 das 1867 im heimatfernen Italien entstandene fünfaktige Versdrama "Peer Gynt", Henrik Ibsens als "nordischer Faust" geadeltes Opus Magnum, in knapp drei Stunden mit nur drei Schauspielern und einem in Tel Aviv aufgewachsenen Folkwang-Musikstudenten, Yotam Schlezinger, inszeniert, beweist Mut. Und berechtigtes Selbstvertrauen, wie ihre ebenfalls zusammen mit Frank Weiß entstandenen und weiterhin auf dem Spielplan stehenden grandiosen Inszenierungen "Tschick" und "Die Verwandlung" belegen.
Ibsens in geradezu epischer Breite erzähltes Stationendrama von Peer, der seiner Mutter Aase Kummer bereitet, weil er immer neue aufschneiderische Geschichten erfindet anstatt etwas ordentliches zu lernen oder doch wenigstens eine reiche Partie zu machen, der mit der reinen Solveig sein Traum-Mädchen gefunden hat und es dennoch verlässt, der in Nordafrika mit Menschen- und Bilderhandel zu großem Reichtum gelangt, um am Ende als alter, gebrochener Mann noch einmal die norwegische Heimat und "seine" Solveig zu sehen, gibt gewöhnlich den Hintergrund ab für großes, aufwändiges Bildertheater.
In dem wundersame Trolle auftreten und ein Großer Krummer, schließlich der Knopfgießer, eine auf die Bibel wie auf nordische Sagen zurückgehende Figur, welche Peer umgießen will, da er - ohne eigene Identität - wertlos sei. Peers Selbstprüfung ist zum gleichen Schluss gekommen, die Zwiebel wird zum Gleichnis seines Wesens: "... bis ins innerste Innere nur Häute und Häutchen - nur dünnere und dünnere - kein fester Kern."
Das war so bei Jürgen Goschs trashiger Inszenierung vor elf Jahren am Schauspielhaus Bochum mit Oliver Stokowski in der Titelrolle an der Seite u.a. von Veronika Bayer, Catherine Seifert, Ernst Stötzner und Franz Xaver Zach. Und fand seine Entsprechung vor zwei Jahren in Dortmund in der Inszenierung Kay Voges', der den Titelhelden gleich von einem halben Dutzend Schauspieler darstellen ließ, weil Peer Gynt für ihn nicht nur eine einzige Person ist, sondern ein ganzes Bündel von Figuren verkörpert in Entsprechung zur Vielzahl der Zwiebelschalen im zentralen Gleichnis des Stücks. Voges' Peer Gynt definierte das eigene Ich am Gegenüber, "switchte" so von einer Rolle in die andere, von Jung zu Alt, von Mann zu Frau, verwandelte sich ständig in die anderen Figuren des Stücks - "permanente Identitätsvariabilität" nannte das der druckreif formulierende regieführende Intendant.
Man kann Ibsens Drama freilich auch als einen einzigen großen Monolog des Titelhelden lesen, und kommt dann mit zwei Darstellern aus. Wie aktuell in Ivan Panteleevs Ödipus Peer-Inszenierung in den Kammerspielen des Deutschen Theaters Berlin. Eine Fortsetzung der im vergangenen Jahr auch bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen gezeigten "Warten auf Godot"-Inszenierung des Dimiter Gotscheff-Dramaturgen, die ohne das Zwiebel-Gleichnis und den ganzen Märchenzauber auskommt, dafür aber auf sandbedeckter leerer Bühne von Johannes Schütz spielt wie anno 2004 in Bochum, nun aber mit Samuel Finzi in der Titel- und Margot Bendokat in allen anderen Rollen. Und, in einem weit weniger ernsthaften Spiel um Identitäten, beim Hildesheimer Duo Markus & Markus in den Berliner Sophiensälen, wo Peer zu einem gewissen Herrn Herbert mutiert, so um die achtzig ist und schon reichlich dement, aber noch voller Phantasie steckt.
Am Prinzregenttheater, so die neue, an das Münchner Haus gleichen Namens angelehnte Schreibweise, die Teil eines moderneren, seriöseren und edleren Corporate Design ist, für das die "Peer Gynt"-Ausstatterin Sandra Schuck verantwortlich zeichnet, geht es in der programmatischen Auftakt-Inszenierung der erst 35-jährigen Broll-Pape-Nachfolgerin Romy Schmidt um die Frage, ob es überhaupt noch Helden gibt und wie ich zu einem solchen Held werden kann. Aber auch um die Frage, warum wir unsere Antihelden auf der Bühne oft noch viel mehr lieben als die strahlenden Siegertypen: "Wenn Peer Gynt zu Anitra sagt: 'Ich will Deine Sehnsucht haben!', können wir uns nur anschließen. Wir wollen unsere Sehnsucht nach großen Geschichten und packenden Dramen und die immerwährende Suche nach den Dingen, die die Welt im innersten zusammenhalten, mit Ihnen teilen" heißt es im neugestalteten Zweimonats-Programm.
Um es gleich vorweg zu nehmen: "Peer Gynt" ist am PRT weder eine große Geschichte noch ein packendes Drama. Und schon gar keine "dramatisierte Fassung" des Dramaturgen Frank Weiß, wie in der WAZ zu lesen war: bei der knapp 150 Jahre alten Vorlage handelt es sich schließlich um ein Drama. Das hier in der Elderschen Knopfgießerei gegeben wird, einer Art Auktionshalle, in der Ismail Deniz Gyntsche Memorabilia versteigert, vom Rentier, einem polyesterbezogenen DDR-Turnbock, bis hin zum (Luft-) Schloss, einer Skulptur aus Gerüststangen, auf denen der koboldhafte Titeldarsteller Helge Salnikau, der zu Beginn mit nacktem Oberkörper auf einem Podest sitzt wie eine Jeff Koons-Skulptur, bei den häufigen Ortswechseln herumturnt. Und das halsbrecherisch bis unters Dach wie beim Variete "et cetera" am anderen Ende der Stadt.
Alle anderen Rollen des Stücks, das mehrfach durch die hinzuerfundene Rahmengeschichte unterbrochen wird, verkörpert die junge PRT-Debütantin Corinna Pohlmann, Wuppertalerin des Jahrgangs 1989 und frischgebackene Absolventin der renommierten Potsdamer "Konrad Wolf"- Hochschule. Romy Schmidt setzt auf Tempo, auf direktes Spiel - und auf ironische Distanz. Beim Zwiebel-Gleichnis, dies als paradigmatisches Beispiel, liegt das Gemüse wie ein zu versteigerndes Objekt auf einem Podest, während sich Helge Salnikau, der immer wieder das große, nicht erwachsen werden wollende Kind herauskehrt, Schicht für Schicht entblättert.
Dazu ertönt ein der Szenenfolge entsprechender Soundtrack von "Dreams are my reality" unter Discokugel-Einsatz bei der Begegnung Peers mit Solveig über "Give it to me baby - fuck me now" bei Ingrids Table Dance bis hin zum finalen "I am what I am". In Jerry Hermans und Harvey Fiersteins Musical "La Cage aux Folles" noch ein seinerzeit politisch höchst unkorrektes Bekenntnis zur eigenen Homosexualität. Und hier angesichts eines Mindestgebotes von 15.000 Euro für das Verkaufs-Exponat Peer Gynt, der seiner Versteigerung lässig an die Wand gelehnt folgt? Ein Gag wie Ismail Deniz' Trollkönig-Spruch über den "Faust des Nordens", wie Helge Salnikaus Polospieler-Pose, die von Stroboskop-Blitzen gepowerte Stürmische Überfahrt oder die Maulsperre Corinna Pohlmanns als Trollprinzessin.
Ibsens "Peer Gynt" am PRT: gewogen und zu leicht befunden. Aber durchaus unterhaltend. Für das jubelnde Premierenpublikum und die begeisterten Kritiker darunter reicht das völlig aus. Wieder auf dem Spielplan am 30. Oktober, 1., 10. und 11. November 2015 jeweils um 19.30 Uhr, Karten unter www.prinzregenttheater.de oder Tel. 0234 - 77 11 17.
Pitt Herrmann
Henrik Ibsen
Peer Gynt
Prinz Regent Theater Bochum