Hab ich nicht unter den Fürsten treffliche Menschen gekannt, und sollte das Geschlecht ausgestorben sein? Gute Menschen, die in sich und ihren Untertanen glücklich waren; die einen edeln, freien Nachbar neben sich leiden konnten und ihn weder fürchteten noch beneideten; denen das Herz aufging, wenn sie viel ihresgleichen bei sich zu Tisch sahen und nicht erst die Ritter zu Hofschranzen umzuschaffen brauchten, um mit ihnen zu leben.
Götz in: "Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand", 3. Akt
"So seid Ihr Götz von Berlichingen! Ich danke dir, Gott, daß du mich ihn hast sehen lassen, diesen Mann, den die Fürsten hassen und zu dem die Bedrängten sich wenden. (Er nimmt ihm die rechte Hand.) Laßt mir diese Hand, laßt mich sie küssen!": Nicht nur für Martin Luther, der ihm in einer Herberge im fränkischen Schwarzenberg begegnet, ist Götz von Berlichingen ein Held wie Robin Hood, der den Reichen nimmt und den Armen gibt.
Dem kaisertreuen Ritter, nur "Gott, seinem Kaiser und sich selbst" verpflichtet, ist Adelbert von Weislingen, einst sein bester Freund seit frühen Jugendtagen, jetzt ein Gefolgsmann des Bischofs von Bamberg, seines ärgsten Feindes, in die Hände gefallen. Der hatte den von Götz als Kundschafter entsandten Knappen Georg rechtswidrig festgesetzt. "Ich bin euch ein Dorn im Auge", so Götz zu Weislingen, "so klein ich bin, und der Sickingen und Selbitz nicht weniger, weil für fest entschlossen sind zu sterben eh, als jemanden die Luft zu verdanken außer Gott und unsre Treu und Dienst zu leisten als dem Kaiser."
Auf Burg Jaxthausen gelingt es Götz nicht nur, seinen Gefangenen "umzudrehen" und für das freie Rittertum zu gewinnen, sondern ihn auch durch die Verlobung mit seiner Schwester Maria familiär an sich zu binden. Aber nur für kurze Zeit: an den feudalen Hof des fränkischen Kirchenfürsten zurückgekehrt verfällt Weislingen der Schönheit Adelheid von Walldorfs - ganz nach dem Wunsch des Bischofs, der diesen beim Treffen mit dem seit jeher dem Götz zugetanen Kaiser in Augsburg für seine Ziele einzuspannen gedenkt.
Nach Berichten von Überfällen auf Kaufleute soll Berlichingen & Co endgültig der Garaus gemacht werden. Der Kaiser schlägt Götz in Acht und Bann, während sich Sickingen, der die sitzengelassene Maria geheiratet hat, nach außen hin neutral verhält als letztes Pfand. Was dann auch benötigt wird, denn Götz und der verwundete Selbitz können nur den ersten Ansturm der Kaiserlichen zurückschlagen, die Belagerung Jaxthausens aber nicht überstehen: "Mich ergeben! Auf Gnad und Ungnad! Mit wem redet ihr! Bin ich ein Räuber! Sag deinem Hauptmann: Vor Ihro Kaiserliche Majestät hab ich, wie immer, schuldigen Respekt. Er aber, sag's ihm, er kann mich --- (Schmeißt das Fenster zu.)."
Das sicherlich populärste Zitat der deutschen Theatergeschichte war in der erst aus dem Nachlass Goethes veröffentlichten Erstausgabe des "Urgötz" von 1771 noch vollständig: "Er aber, sag's ihm, er kann mich im Arsch lecken." Für die 1773 im Selbstverlag gedruckte Fassung, die bis heute Einklang in die Gesamtausgaben findet, wurde der Schluss durch drei Striche ersetzt und 1804 für Goethes Weimarer Inszenierung umformuliert in: "...er kann zum Teufel fahren." In Stefan Meißners Inszenierung des an der Rottstraße zum neunzigminütigen Monodram geschrumpften "Götz", umjubelte Premiere war am 7. September 2014, ist konsequenterweise der "schwäbische Wutbürgergruß" nur zu erahnen und jedenfalls nicht zu hören. Denn Ausgangspunkt der Koproduktion mit dem Dortmunder Theater im Depot, die dort am 4. Oktober 2014 herauskommen soll, ist die zweite Fassung.
Weil "Götz" nach der ideologischen Umdeutung durch die Nationalsozialisten kaum noch gespielt wird, hierzulande zuletzt in der "Urgötz"-Fassung vor beinahe 25 Jahren am Schauspiel Essen als Koproduktion mit den Ruhrfestspielen 1990 Recklinghausen, und daher weder den jungen Leuten noch ihren Eltern bekannt ist, gehört das Frühwerk Goethes, die erste Tragödie des 22-Jährigen, zu den großen Unbekannten. Was sich nach dem kaum eineinhalbstündigen Solo des am Premierenabend knapp unter Ovationsstärke gefeierten Bielefelder Schauspielers Jörg Schulze-Neuhoff leider auch nicht ändert. Weshalb wir nachholen, was die Rottsträßler vorab vollmundig versprochen haben, und die Grundlage dafür legen, dass die freilich nicht ganz so "große Literatur" für (Nicht-) Theatergänger anschaulich werden kann unter den Glückaufbahn-Bögen.
Götz wird vom Kaiser freier Abzug gewährt, dessen Hauptleute aber brechen das Ehrenwort ihres obersten Befehlshabers und setzen Berlichingen in Heilbronn fest. "Einem Räuber sind wir keine Treue schuldig" heißt es auf dem Rathaus. Götz widerspricht: "Hab ich wider den Kaiser, wider das Haus Österreich nur einen Schritt getan? Hab ich nicht von jeher durch alle Handlungen bewiesen, daß ich besser als einer fühle, was Deutschland seinen Regenten schuldig ist, und besonders was die Kleinen, die Ritter und freien, ihrem Kaiser schuldig sind? Ich müßte ein Schurke sein, wenn ich mich könnte bereden lassen, das zu unterschreiben." Franz von Sickingen befreit seinen Schwager, der nun gelobt, sich auf seine Burg zurückzuziehen und Frieden zu halten.
Und dann überschlagen sich im fünften Akt die Ereignisse: Ein Bauernaufstand bricht aus, ganze Landstriche werden verwüstet. Götz sagt nur zu, für kurze Zeit der Anführer der Bauern zu sein, um Schlimmeres zu verhüten: "Warum seid ihr ausgezogen? Eure Rechte und Freiheiten wiederzuerlangen? Was wütet ihr und verderbt das Land! Wollt ihr abstehen von allen Übeltaten und handeln als wackre Leute, die wissen, was sie wollen, so will ich euch behülflich sein zu euern Forderungen und auf acht Tag euer Hauptmann sein."
Als Miltenberg brennt und der von Götz als Schlichter entsandte Georg von den Aufständischen getötet wird, dreht sich die Spirale der Gewalt immer schneller: Weislingen ist im Auftrag der ehrgeizigen Adelheid, die auf eine Verbindung mit dem designierten neuen Kaiser hofft, vergiftet worden. Die Anstifterin zum Mord wird daraufhin selbst zum Tod verurteilt, während der Täter, Weislingens Knappe Franz, sich selbst das Leben nimmt. Als der alte Kaiser stirbt, haucht auch Götz sein Leben aus, im Garten des Heilbronner Gefängnisses: "Gebt mir einen Trunk Wasser! - Himmlische Luft - Freiheit! Freiheit!"
Intention der Neuinszenierung Stefan Meißners ist es, dem Publikum "Einblick in Seele, Leben und Denken eines Individuums, das mit seiner Umwelt in Konflikt steht und das aus seiner Zeit gefallen scheint" zu geben. Dabei soll Götzens "Forderung nach Selbstbestimmung und somit nach persönlicher Freiheit" im Mittelpunkt stehen - und eine solche ist immer aktuell, kann also gar nicht aus der Zeit fallen wie etwa Helm und Harnisch, auf die der Regisseur als sein eigener Bühnenbildner nicht verzichten mag. Die notwendige Precis-Fassung, vier Stunden "Götz" sind in der Tat höchstens in Eventform open air in Jagsthausen zumutbar, müsste freilich mit der Charakterisierung des Titelhelden beginnen. Was schwierig ist, wenn die bei Goethe quasi als Prolog stehende Aussage Luthers dem Rotstift zum Opfer gefallen ist.
Auch sonst wird der Rottstr5Theater-Besucher allein gelassen: Worin liegt die Ursache der Dauerfehde Götzens mit dem Bamberger Kirchenfürsten, wenn doch beide sich als kaisertreu verstehen? Was führt dazu, dass der Kaiser, der bisher immer seine schützende Hand über Götz gehalten hat, diese plötzlich zurückzieht, ja den Ritter zum Freiwild erklärt, auf dass er vom "Bamberger" verfolgt und festgesetzt werden kann? Von Überfällen auf Kaufleute, die gut bestückt von der Frankfurter Messe zurückkehren, jedenfalls kein Wort. Dafür Maximilians kaiserliche Worte aus dem Off.
Was ist das überhaupt für ein Ritter von der merkwürdigen Gestalt, der mit nacktem Oberkörper unter dickem Pelzmantel, tarnfarbener Militärhose und martialischen Knobelbechern allmählich hinter dichten Theaternebel-Schwaden auftaucht? Der sich in lächerlichen Posen auf einem umgestürzten Sessel gefällt, bevor er unter Stroboskop-Blitzen wie ein Fantasy-Quichotte mangamäßig gegen unsichtbare Windmühlen ficht? Der später die Hose fallen lässt bis auf ein knallrotes Sport-Unterteil mit Deutschlandfähnchen, sich erst den Astralkörper mit "Götz"-Sportgel befeuchtet und dann die Kehle mit "Götz"-Dosenbier?
Wenig Licht, viel Schatten: Jörg Schulze-Neuhoff schlüpft in unzählige Rollen, bewältigt ein enormes Textkonvolut, ist Götz und Georg und Weislingen in einem, aber auch Elisabeth, Maria und Adelheid - und ganz wundervoll Götzens kleines Söhnchen Carl. Er duckt sich hinter zwei Europaletten, als die Kaiserlichen vor der Burg Jaxthausen stehen und fummelt dauernd an seinem Gemächt, wenn er einen der aufständischen Bauern gibt. Am Ende, nach achtzig Minuten, spuckt er Blut. Wars das? Das wars. Elisabeths letzte Worte sind gestrichen: "Die Welt ist ein Gefängnis."
Pitt Herrmann
Stefan Meißner (Textfassung) nach Johann Wolfgang von Goethes Tragödie "Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand"
Götz
Rottstr5Theater Bochum c/o Theater im Depot Dortmund