„Was du gesehen hast, verrat es nicht. Bleib in dem Bild“: Aus den Sprüchen des Orakels von Dodona stammt das Motto des von Claus Peymann zu den Wiener Festwochen 1992 uraufgeführten Schau-Spiels „Die Stunde da wir nichts voneinander wußten“, das jetzt, inszeniert von Jürgen Gosch, in Deutscher Erstaufführung am Bochumer Schauspielhaus herausgekommen ist, Premiere war am 13. März 1993.
Ort des Geschehens ist ein Platz, den der 1942 in Kärnten geborene Autor Peter Handke einmal in Muggia an der Küste bei Trient, ein anderes Mal im Südwesten bei Paris, wo er seit 1991 in Chaville beheimatet ist, angesiedelt wissen will. Das Stück, auf 55 Druckseiten hochgepowerte Regieanweisungen, kommt ohne Worte aus: Paare und Passanten kreuzen besagten Platz unter südlicher Sonne, 'mal hastig, 'mal gedankenverloren oder still verweilend.
Tages- und Jahreszeiten wechseln, Kindheitserinnerungen werden wach, die Choreographie „von lauter Helden des Alltags“ (Handke) wird mit mythischen und historischen Figuren angereichert. 35 Darsteller in 350 Rollen (und Kostümen) – eine bühnentechnische Herausforderung.
Claus Peymann hat in Karl-Ernst Herrmanns mediterranem Ambiente mit einem erstklassigen Ensemble eine zweistündige Folge szenischer Petitessen herausgebracht, poetisch, (selbst-) ironisch, vor allem aber heiter und gelassen-kontemplativ.
Jürgen Gosch vereint nun in Bochum, freilich mehr additiv als produktiv, Reinhild Hoffmanns Tanz- mit Frank-Patrick Steckels Sprech-Theaterensemble. Johannes Schütz hat eine triste Bühne gebaut, deren dunkle Brandmauern und düstere Betonfassaden ganz an den „Bochumer Stil“ des Hausherrn erinnern.
An der Königsallee wird mächtig aufs Tempo gedrückt, eine satte halbe Stunde eingespart im Vergleich zum Burgtheater. Keine Zeit zum Flanieren oder gar Innehalten. Das ist virtuos gemacht und die Reduktion des optischen Reizes hat auch etwas für sich: so werden die Gegensatzpaare von Ernst und Heiter, Hektik und Muße, Groteske und Clownerie noch härter betont.
Gosch setzt auf drastische Komik, läßt der Poesie keinen Raum. Und zeigt für die mythischen, historischen Figuren nur noch peripheres Interesse. Sie sind allenfalls dafür gut, daß man sich über sie lustig macht. Das Ensemble wird entindividualisiert: das Leben hier im Revier ist Maloche und kein Genuß.
In Wien geben Robert Meyer und Urs Hefti ein unglaublich komisches Duett, das sich wie ein „Roter Faden“ durch die „Partitur“ zieht. In Bochum sind mit Martin Feifel und Thomas Wüpper austauschbare graue Gestalten zu sehen. In Wien paradieren powackelnde Stewardessen vor den notabene männlichen Flugzeugkapitänen über die Piazza, in Bochum wird diese Szene in aller Eile verschenkt.
In Wien macht Thomas Thieme, der zuletzt in Bochum Werner Schwabs „Die Präsidentinnen“ inszenierte, aus den Bemühungen eines Straßenkehrers einen geradezu philosophischen Kampf mit den Unbilden der Witterung, in Bochum läßt Ernst Cerannas Kurzeinsatz kaum Schadenfreude aufkommen. In Wien hält „Platznarr“ Hans Dieter Knebel die Choreographie wie eine Klammer zusammen und das Publikum zwei Stunden lang in Atem, in Bochum wird Gerald Rissmann, mit einer Francis Bacon-Maske versehen, in klassischer B.B.-Manier chorisch eingesetzt.
In Wien sorgt der kleine Irrwisch Caroline Koczan für eine herrliche Chaplin-Slapstick-Einlage, in Bochum huscht Karl-Heinz Tittelnbach nur kurz über das Straßenpflaster. Dafür wartet Jürgen Gosch mit zwei Zirkusäffchen, einer Heidschnucke, einem wunderbaren Zottelhund und einem majestätischen Falken auf.
Nein, im Zentrum der Dalli-dalli-Malocher hier im Pott hat man mit den Segnungen südländischer Lebensfreude nichts am grubenlichtbewehrten Helm. „Die Stunde da wir nichts voneinander wußten“ - kein Vergleich mit Wien. Für Herner Lokalkolorit immerhin sorgen Anton Lohse und, sporadisch, Thomas Nückel von der „Kleinen Bühne“.
Pitt Herrmann
Peter Handke
Die Stunde da wir nichts voneinander wußten
Schauspielhaus Bochum