Nur einen Bruchteil unserer Erlebnisfähigkeit nutzen wir zu tatsächlichem Erleben. Wer würde sich eingestehen, daß seine Biographie zu Vierfünftel aus Totzeit und höchstens zu einem Fünftel aus erfahrenem Leben besteht? Wer erinnert sich der Unmenge lebloser Augenblicke, der Masse nicht verbrachten Lebens?
Botho Strauß: Tatsächlich schreiten wir nur fort, Frankfurter Allgemeine Zeitung 18.11.1999
„Auf unsere schlaflosen Nächte! Auf unsere Atemnot. Auf unsere Mordlust. Auf unser unvergessenes Unglück!“: Ein Mann lebt mit seiner Frau und seiner jungen Freundin auf einem Chalet im Berner Oberland in der Schweiz. In diese Abgeschiedenheit platzt der Ex-Lover der Gattin und mischt das „Dreieck“ kräftig auf.
Diese Strindbergsche Konstellation bildet den Ausgangspunkt des neuen Stückes von Botho Strauß, „Unerwartete Rückkehr“, das Luc Bondy am 9. März 2002 am Berliner Ensemble als Koproduktion mit dem Schauspielhaus Bochum, wo es Anfang Mai 2002 erstmals zu sehen war, uraufgeführt hat: Ein verletzender und erniedrigender Kampf zweier Männer und zweier Frauen vor dem Hintergrund eines zwanzig Jahre zurückliegenden Ehebruchs.
Stefan Kauntzsch (Peter Fitz) ist der Mann, ein eitler Kulturbürokrat um die sechzig, der scheinbar alle Fäden in der Hand hält. Weil er einst seiner Gattin Ingrid (überragend: die DDR-Ikone Dagmar Manzel) das Leben gerettet hat, bescheidet sich diese in die Rolle des dienenden Hauswesens, läßt jedoch alle Erniedrigungen von sich abprallen, behält stets einen Rest an Würde.
Nina Hoss ist Leonie, die „kleine Freundin“ des Mannes, eine junge Künstlerin um die Zwanzig, die nicht nur von ihm ein Kind erwartet, sondern sich auch berufliche Förderung erhofft. Die offeriert nun auch Clemens Wagner (Robert Hunger-Bühler), Ingrids Ex-Lover, der sich mächtig um Leonie bemüht. Der einstige Galerist und Frauenheld im alten großbürgerlichen West-Berlin ist heute nur noch ein allseits gescheiterter Möchtegern-Macho der schmierigen Art. Wie er es dennoch schafft, die beiden Frauen zu einer menage a trois auf seine Seite zu ziehen, erzählt Botho Strauß in zehn Bildern – und Starregisseur Luc Bondy mit vier tollen Schauspielern.
Doch was ein spannungsreicher Psycho-Thriller hätte werden können, gebrochen durch den postmodernen Sprachstil des Autors, mutiert, mit reichlich Philosophie, antiker Mythologie und literarischen Verweisen aufgeladen, zu einer recht banalen Tragikomödie. Was einerseits an der Regie liegt, die einer Uraufführung gemäß vom Blatt spielen läßt, was andererseits schon bei der Stücklektüre deutlich wird: „Unerwartete Rückkehr“ gehört nicht zu den besten Texten von Botho Strauß.
In der alpinen Bühnenlandschaft von Wilfried Minks passiert knappe zwei Stunden lang allerhand Mythisches zwischen Konversationston und handfestem Ringen. Am Ende rettet Ingrid, im Figurenarsenal die „Frau“, namenlos wie die anderen drei Protagonisten, den positiven Ausgang, indem sie einen Doppel-Totschlag verhindert. Einerseits. Andererseits hat Stefan, der „Mann“, der mehr als eine Stunde lang alles fest im Griff zu haben glaubte, ausgespielt. Clemens, der „andere Mann“, wird künftig mit den beiden Frauen zusammenleben. Ob es ein wirklicher Neuanfang wird, steht in den Sternen, darf aber durchaus bezweifelt werden.
Dagegen muß die Richtigkeit der Jury-Entscheidung bezweifelt werden, „Unerwartete Rückkehr“ statt „Pancomedia“ zum heurigen „Stücke“-Festival nach Mülheim/Ruhr einzuladen. Das hat offenbar Botho Strauß so geschmerzt, daß er seine Beteiligung am Wettbewerb ausgeschlossen hat. Die Begründung ist aller Ehren wert und doch sehr fadenscheinig: Er sei zu alt für den „Stücke“-Preis, Jüngere sollten sich um ihn bewerben. Da kommen heuer nicht viele infrage bei einem Durchschnittsalter der Nominierten von annähernd vierzig Lenzen.
Immerhin ist Luc Bondys Inszenierung einmal mehr ein Fest für vier tolle Schauspieler von Rang und Namen: Peter Fitz, Dagmar Manzel, Nina Hoss und Robert Hunger-Bühler. Und darauf kann sich das Bochumer und das Mülheimer Publikum schon heute freuen.
Nina Hoss ist Leonie, die „kleine Freundin“ des Mannes, eine junge Künstlerin um die Zwanzig, die von Stefan ein Kind erwartet. Nina Hoss spielt das „Durchgangswesen“ verführerisch, aber zu oberflächlich um wirklich so furienhaft-gehässig zu wirken, wie der Stücktext suggeriert.
Dagmar Manzel, die DDR-Ikone, die endlich wieder auf Berliner Brettern steht, ist die Mittfünfzigerin Ingrid Thammer. Sichtlich in die Jahre gekommen, läßt sie alle Erniedrigungen von sich abprallen, seit sie nach exzessivem Sex mit ihrem Lover ausgerechnet von ihrem Gatten gerettet wurde. Sie gehört sozusagen zum Haushalt, wenn auch nur als dienendes Wesen, aber sie behält stets einen Rest an Würde. Und das macht „die“ Manzel mit der Fülle eigener (Lebens-) Erfahrung großartig!
Der wunderbare Peter Fitz, den man auf der Bühne erleben muss abseits der vielen unsäglichen TV-Rollen, die diesem großen Schauspieler leider immer wieder angetragen werden, ist der „Mann“ Stefan Kauntzsch, ein eitler, noch weitaus stärker gealterter ehemaliger Vize-Verwaltungsdirektor der Staatlichen Museen West-Berlin um die sechzig, „auf widernatürliche Weise nachtragend“, der alle Fäden in der Hand hält. Bis er am Ende als Verlierer dasteht.
Robert Hunger-Bühler schließlich gibt den „anderen Mann“ Clemens Wagner, der mit Ingrid Thammer einst ein Verhältnis hatte, diese aber schmählich im Stich ließ. Ein ehemaliger angesagter Westend-Galerist und Frauenheld, nun allseits gescheitert – sogar im Weinhandel. Ein Schmierlapp, aber ein Kämpfer. „Es gibt nichts rätselhafteres als die Frage, was Menschen eigentlich zusammenbringt“: Nur auf den ersten Blick scheint Ingrid die Schuldige, am Ende muß Stefan seine Schuld erkennen und allein den Abstieg vom Chalet ins Tal antreten. Und lässt ein neues alpines „Dreieck“ zurück. Gerhard Stadelmaier, unumstrittener Theaterpapst des deutschsprachigen Feuilletons, am 11.2.2002 in der „FAZ“. „Am Ende siegen nicht Verzweiflung, Verklärung, Verschmockung und Tod wie oft beim frühen Botho Strauß. Es siegt das Leben in einer kleinen, liebevollen humanen Geste. Mehr ist nicht nötig im einundzwanzigsten Jahrhundert.“
Pitt Herrmann
Botho Strauß
Unerwartete Rückkehr
Berliner Ensemble c/o Schauspielhaus Bochum