Kapo: He. Deutscher. Warum habt ihr nicht gesiegt?
Häftling (schweigt)
Kapo: Faschist, leck mir die Stiefel.
(Pause)
Kapo: Sag Heil Hitler.
(Pause. Häftling hebt eine Faust zum kommunistischen Gruß. Häftlinge schlagen ihn nieder)
Kapo: Willkommen in der Heimat, Bolschewik.
Willkommen in Workuta, in: Germania 3 Gespenster am Toten Mann
Ernst Thälmann, der 1933 in Buchenwald ermordete Kommunistenführer, und Walter Ulbricht, nach 1953 SED-Parteichef in Ost-Berlin, treffen sich an der Berliner Mauer und fragen, was sie falsch gemacht haben.
Stalin bekennt nach dem Einmarsch der deutschen Truppen „Bruder Hitler“: „Weil sie dich hassen, werden sie mich lieben.“
Ein russischer Soldat vergewaltigt eine deutsche Frau. Der Gatte kommt, an der Bekleidung als politischer KZ-Häftling erkennbar, hinzu und erschlägt den Russen. „Ich bitte um Entschuldigung, Genosse. Ich hätte nicht so hart zuschlagen sollen, wie? Wir sind Kommunisten, ihr habt uns befreit, aber meine Frau ist meine Frau.“
Charakteristische Szenen aus dem am 24. Mai 1996 im Schauspielhaus Bochum posthum uraufgeführten letzten Werk Heiner Müllers, „Germania 3“. Aus dem Projekt, bis zur Jahrtausendwende ein siebenteiliges Werk zu schreiben, ist nach Heiner Müllers Tod immerhin eine Trilogie geblieben – zusammen mit „Germania Tod in Berlin“ und „Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessing Schlaf Traum Schrei“.
„Germania 3“, dessen Untertitel „Gespenster am Toten Mann“ auf eine 1916 hart umkämpfte Gefechtshöhe bei Verdun verweist, ist eine Szenenfolge über die gescheiterten Revolutionen vor dem Hintergrund der schicksalhaften deutsch-russischen Bipolarität – vom Kessel in Stalingrad bis zur Berliner Mauer. Aber die Tragödie über das Scheitern sämtlicher Utopien unseres Jahrhunderts in Form einer grotesken Collage ist auch ein Text über die Frage der Macht und die Haltung der Intellektuellen zu ihr, ein Stück auch über die eigene Scham.
„Mach' es leicht!“ hatte Heiner Müller dem Bochumer Intendanten Leander Haußmann geraten, als er ihm im Spätherbst des vergangenen Jahres in den USA, wo der bereits totkranke Dramatiker während einer Kur in Kalifornien weiter an seinem Opus Magnum schrieb, das – im zweiten Teil Fragment gebliebene – Werk zur Uraufführung übergab. Nach vier Stunden an der Bochumer „Kö“ stand fest: dem jungen Theatermacher, vom etablierten Feuilleton als „Grünschnabel“ stigmatisiert, ist dies auf faszinierende Weise gelungen. In den besten Szenen reicht Haußmanns Arbeit an Frank-Patrick Steckels legendäre „Germania Tod in Berlin“-Inszenierung heran. Und das konnte man nun wirklich nicht erwarten!
Vorspiel auf dem Theater mit Autorin (Traute Hoess) und Regisseurin (Margit Carstensen): Leander Haußmann thematisiert die eigene Unsicherheit, ja Ratlosigkeit gegenüber dem gewaltigen Unterfangen „Germania 3“. Das macht ihn dem Publikum sympathisch und gibt zugleich der Überheblichkeit vermeintlicher Großkritiker, die sich nun nicht länger dem Charme des Novotels aussetzen müssen, sondern im neuen Twin-Tower am Hauptbahnhof endlich eine standesgemäße Bleibe gefunden haben, neue Nahrung. Die Überschriften ihrer Kritiken der Bochumer Urinszenierung lassen sich nur mit dem Pawlowschen Reflex erklären: „Raunender Absturz“, „Bully Buhlan singt dazu“, „Ein Trauerspiel in jeder Hinsicht“, „Im Tal der Ahnungslosen“, „Und alles Leben welkt in den Ruinen“.
Frank-Patrick Steckel wohnt der Uraufführungs-Premiere bei, er wird in der kommenden Spielzeit das Stück als Österreichische Erstaufführung am Wiener „Burg“-Ableger Akademietheater herausbringen. Martin Wuttke, Heiner Müllers Nachfolger als Intendant des Berliner Ensembles, der Mitte Juni 1996 eine eigene Inszenierung am Schiffbauerdamm präsentiert und dafür wirklich alles an Schauspielern mobilisiert, was die Brecht-Traditionsbühne hergibt, wird von Steffen Schult mit einem launigen Extempore gegrüßt: „Der Heiner hät's geliebt.“ So isses!
Die Titelfigur Germania wird von Steffen Schult als Narr mit Schellenkappe gegeben, der Müllers Nebentext spricht und durch diesen bösen deutschen Totentanz führt, der in Bochum naturgemäß ohne den opulenten Leseapparat der bei Kiepenheuer & Witsch erschienenen Textausgabe auskommen muß. Obwohl elf Schauspieler in mehr als siebzig (!) Rollen schlüpfen.
Die Bühne ist ein Zettelkasten für Müllers Bruchstücke, ein Environment. Darin die Musiker Paul Lemp und Marek Adrian Goldowski. „Was haben wir falsch gemacht?“: Thälmanns Frage zieht sich wie ein Roter Faden durch Stück und Inszenierung. So stellen sich Thälmann und Ulbricht diese Frage an der Berliner Mauer und liefern die Antworten gleich mit von „Fickzellen mit Fernheizung“ bis „Mausoleum des deutschen Sozialismus.“
Im ersten Teil eine im wahren Wortsinn leise, behutsame Annäherung an die bis zur Uraufführung als unspielbar geltende Vorlage, geprägt von der Achtung vor dem Autor und seinem Vermächtnis. Herausragend Gennadi Vengerov als Stalin und Heiner Stadelmann als selbstverliebter, den eigenen Worten nachlauschender Hitler: eine feinfühlige Studie, nicht die befürchtete Karikatur. Die Szene mit Lenin, Trotzki und „Bruder Hitler“ gehört zu den Höhepunkten vor der Pause, die nicht zur zeitlichen Zäsur 1945 einsetzt, sondern mit der Einverleibung der DDR durch die Alteigentümer aus dem Westen unmittelbar nach der „Wende“. Was Sinn macht im Hinblick auf die von Heiner Müller kritisierte fatale Kontinuität der Geschichte.
Erst im zweiten Teil betritt Haußmann gesichertes Terrain und gibt dem Affen reichlich Zucker – auch im Hinblick darauf, die Zuschauer in der vierten Stunde bei der Stange zu halten. In den Szenen aus dem Berliner Ensemble wie vom spießbürgerlichen Feierabend im Arbeiter- und Bauernstaat kann der Regisseur eigene Erfahrungen einbringen.
Gleich vier „Witwen“ Brechts, Helene Weigel, Elisabeth Hauptmann, Isot Kilian und Ruth Berlau, nehmen Einfluß auf das Mausoleum am Schiffbauerdamm, während sich die beiden Assistenten Brechts am BE, Peter Palitzsch und Manfred Wekwerth, um das „Erbe“ streiten im Rahmen einer „Coriolan“-Inszenierung. Das ist witzig und kabarettreif auf den Punkt gebracht und ein Lindwurm spricht den berühmten Satz: „Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten.“ B.B. als ausgestorbenes Urviech?
Wer weiß schon, daß der prominente DDR-Staatsbildhauer Fritz Cremer, der im Stück den Zinksarg Brechts geschaffen hat, in Wahrheit das Brecht-Denkmal vor dem Berliner Ensemble gestaltete? Wer kennt den Frauenmörder aus dem brandenburgischen Beelitz, der bei Müller als „Rosa Riese“ vorkommt? Haußmann bleibt trotz der Verabredung, Uraufführungen möglichst vom Blatt zu inszenieren, gar keine andere Wahl als eigene Schwerpunkte zu setzen, eigene theatralische Mittel zu finden. Etwa für eine Party treuer Funktionäre der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, in welche die Kunde von Chrustschows geheimer Parteitagsrede über die Verbrechen Stalins platzt: die Polonaise mit Hammer & Zirkel-Winkelementen mündet abrupt in den Selbstmord des Parteisoldaten Ebertfranz.
„Germania 3“ ist auch ein durchaus autobiographisch gemeintes Stück über das Einverständnis der Intellektuellen mit der DDR-Staatsgewalt – und deshalb auch ein selbstkritisches Werk über die eigene Scham. Bei Sophokles ist Ajax ein tragischer Held, der sich ins Schwert stürzt, um seine Ehre zu retten. Bei Müller erhängt sich der Parteisoldat Ebertfranz, als ihm 1956 nach dem 20. Parteitag der KPdSU die Verbrechen Stalins klar werden. Heiner Müller hat in diesem Zusammenhang eigene Stücke wie „Macbeth“ und „Philoktet“ zitiert, aber auch Kleists „Homburg“, Hölderlins „Empedokles“ und Kafkas Erzählung „Das Stadtwappen“, eine Parabel über das Scheitern des Sozialismus.
Leander Haußmann, neben Alex Harb und Nicola Reichert auch für die Bühne verantwortlich, gelingen verblüffend einfache szenische Lösungen mit Brecht-Vorhang und filmischer Wischblenden-Technik. Herzlicher, langanhaltender Beifall für ihn und die großartigen Schauspieler von Manfred Böll über Margit Carstensen und Traute Hoess bis hin zu Matthias Leja, Torsten Ranft und Ralf Dittrich.
Pitt Herrmann
Heiner Müller
Germania 3 Gespenster am Toten Mann
Schauspielhaus Bochum