Du bist hier nicht bei der Hitlerjugend, Karl!
Alfred Kirchner am 4. Februar 1983 auf der Probebühne des Schauspielhauses Bochum zu Karl Kneidl
Die Uraufführung von Gerhard Hauptmanns sozialem Drama „Die Weber“ löste 1893 in Berlin einen handfesten Skandal aus. Anfang Februar 1983, kurz vor der dann um eine Woche verschobenen Premiere der Alfred Kirchner-Inszenierung, gabs im Bochumer Schauspielhaus auch wieder einen Skandal, freilich einen hausgemachten. Dafür aber auch einen handfesten: nach der oben geschilderten verbalen Auseinandersetzung zwischen dem Regisseur und seinem Ausstatter sollen in der Kantine an der Königsallee sogar Aschenbecher geflogen sein.
Der renommierte Düsseldorfer Künstler Prof. Dr. Karl Kneidl wurde als Bühnen- und Kostümbildner unsanft hinausgeworfen und mit ihm rund 250 Statisten, weil die geplanten Massenszenen einem Akt der Verzweiflung des Bochumer Regisseurs und Direktoriumsmitglieds Kirchner zum Opfer gefallen waren. Immerhin weist schon der Besetzungszettel der Produktion 21 Schauspieler auf, darunter mit Julia von Sell (als Mielchen), Lore Stefanek (als Frau Pastorin Kittelhaus), Urs Hefti (als Sargtischler Wiegand und als alter Hilse), Hans-Dieter Knebel (als Gottlieb Hilse), Gottfried Lackmann (als Expedient Pfeifer), Bert Oberdorfer (als Reisender und Pastor Kittelhaus), Johann-Adam Oest (als Kutscher), Ulrich Pleitgen (als Lumpensammler und als Sympathisant Hornig) und Franz-Xaver Zach (als Gendarm) die erste Garde des Peymannschen Ensembles.
Die hohen Wellen der Empörung beschäftigten die Medien noch den ganzen Februar über: Die Politik regte sich über 50.000 in den Sand gesetzte Mark auf und der Direktor der Albert Einstein-Schule, Gerhard Jenning, über die Theaterleute. Sie hätten „Fairneß und Verständnis“ vermissen lassen gegenüber seinen als Statisten verpflichteten und am Tag vor der Premiere hinausgeschmissenen Schülern. Dann gabs eine offizielle Entschuldigung des Intendanten bei Kneidl und den Schülern – und Ruhe kehrte ein.
„Um die schöne Arbeit der Schauspieler und Hauptmanns großes Stück so klar wie möglich zu zeigen“, schrieb Peymann, „hielt der Regisseur Kirchner eine wesentliche Änderung in Bühnenbild, Beleuchtung und Kostümen für notwendig. Es war seine Entscheidung, nicht meine; alle anderen Gerüchte und Behauptungen darüber sind falsch. (…) Wir standen (…) vor der Frage, eine Aufführung abzusetzen oder durch prinzipielle Änderungen eine künstlerisch überzeugende Aufführung zu ermöglichen.“
Hauptmanns Drama liegen Vorfälle im Juni 1844 zugrunde, ein spontaner Aufstand ausgebeuteter schlesischer Weber, der vom Militär blutig niedergeschlagen wurde. Der noch junge Dramatiker hat daraus ein fünfaktiges, offenes Stück mit sich abwechselnden Massen- und Familienszenen geschrieben, das in Bochum unverändert auf die Bühne gekommen ist.
Weber liefern im Haus des Fabrikanten Dreißiger (Manfred Karge) den Parchent ab und kassieren einen Hungerlohn. Exemplarisch werden an der Familie Hilse die Folgen der Ausbeutung deutlich: Elend, Hunger, Ausweglosigkeit. Der Soldat Moritz Jäger (Hansjürgen Gerth) kehrt in seine Heimat zurück und schürt Unruhe. In der Dorfkneipe versammeln sich die Lohnweber und drängen zur Aktion. Nach der Plünderung der Dreißiger-Villa werden auch andere Fabrikanten verjagt, bis am Ende das Militär den Aufstand niederschlägt.
Ein naturalistisches, sozialrevolutionäres Tendenzstück? Alfred Kirchner mag am allgemeingültigen Urteil gezweifelt haben, auch wenn Franz Mehrings Uraufführungskritik in Bochumer Programmheft Aufnahme fand, in der von genrehaften Szenen, dramatischer Spannung und revolutionärer zeitgenössischer Wirkung die Rede ist.
Kirchner führt die „Weber“ vor, als stammten sie aus der Feder Bertolt Brechts. Als distanziertes episches Theater. Wofür durchaus einiges spricht. Bei Hauptmann stirbt am Ende mit Vater Hilse ein gänzlich Unbeteiligter, ja entschiedener Gegner des Aufstandes, durch eine verirrte Kugel. Das Dreißigerlied zieht sich leitmotivisch durch das gesamte Stück. Und der schlesische Dialekt ist bei Hauptmann, der die „Weber“ auch in einer zweiten, hochdeutschen Fassung herausbrachte, eher Mittel der Distanz als der Einfühlung.
So erscheint es folgerichtig, wenn auf identifizierende Massenszenen verzichtet worden ist, auch im ungünstigsten, weil allerletzten Moment. Deshalb aber Kirchners Inszenierung gleich „ein Stück Kaspertheater“ zu nennen wie die Ruhr-Nachrichten, erscheint sehr weit hergeholt. Zugegeben: Kirchner vermeidet, bisweilen zu akribisch, jeden Naturalismus, jede Mimesis-Dramaturgie und setzt auf parodistische Überzeichnung, auf derbe Karikatur. Und sorgt für problematische, weil mißverständliche Besetzungen: Kirsten Dene etwa gibt einerseits die einfältige Dreißiger-Gattin und andererseits als Mutter Baumert die handfeste Hausfrau des arg chargierenden Gert Voss.
Die Aktualität der „Weber“ in Kirchners Inszenierung kann jedoch nicht übersehen werden, wenn etwa Fabrikant Dreißiger auf Lohnverzicht plädiert, um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen: „Ich denke mir halt: wenn sich ein Mensch täglich 'ne Quarkschnitte erarbeiten kann, so ist das besser, als wenn er überhaupt hungern muß.“
Pitt Herrmann
Gerhart Hauptmann
Die Weber
Schaupielhaus Bochum