Glauben Sie nicht, Sie könnten etwas wirklich wissen, bevor es zu spät ist!
Es sind mystische Kopfgeburten, mit denen Krunoslav Sebrek, einziger Schauspieler unter den sieben Tänzern des Herner Renegade-Ensembles und so etwas wie der Gastgeber in „Out of Body“, das Publikum konfrontiert. Die nunmehr dritte „Residence“-Produktion nach den beiden Choreographien „Irgendwo“ und „Der verlorene Drache“ von Malou Airaudo, die am 18. Januar 2013 heftig umjubelte Uraufführungs-Premiere in den Kammerspielen feierte, stammt vom 30jährigen Kubaner Julio Cesar Iglesias Ungo, der seine ersten Schritte als Tänzer in Europa bei Renegade machte, bevor er zu Wim Vandekeybus' Truppe „Ultima Vez“ nach Belgien wechselte.
Lassen Sie sich nicht von Ihren Augen täuschen, noch von Ihren Ohren beunruhigen.
Ungo hat sich von Robert Haydens dunklen Nächten der Seele inspirieren lassen für seinen 75minütigen Tanzabend, in dem es um Erlebnisse in extremen seelischen Situationen geht, um Erinnerungen und (Alp-) Träume. Und bei dem es längst nicht nur so spielerisch-locker zugeht wie zu Beginn mit Krunoslav Sebrek auf der Vorbühne, der mit einer kleinen Taschenlampe nicht nur innere Dämonen beschwört, sondern auch große Effekte erzielt.
Als der „Eiserne“ gemächlich in die Höhe rattert und im diffusen Licht mächtiger Nebelwolken allmählich die Tänzer auftauchen, gibt Youngung Sebastian Kim ein schüchternes Kind, das sich mit einem Teddy auf dem Arm und einem herzförmigen Luftballon in der anderen Hand kaum drei Schritte vorwärts traut. Christian Zacharas, der an einem Seil hängt, fremdbestimmt wie eine Marionette, sammelt verstreut liegende leere Plastikflaschen auf. Das hat etwas von einer Zwangshandlung: der Tänzer sammelt den Müll jedenfalls nicht, um Pfandgeld zu kassieren. Eine junge, elegante Frau schlägt ihm das Bündel Flaschen aus den Armen: Elena Frisco tanzt lasziv-erotisch erst mit dem Sammelgut, dann mit dem Sammler.
Ohne Wahnsinn kein Verstand. Und der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer aus uns allen.
Alexis Fernandes Ferrera, der später zu unverständlichen Wortfetzen einer fremden (Kunst-?) Sprache ein mitreißend-artistisches, ja beinahe ekstatisches Streetdance-Solo hinlegt, die große Ausnahme eines ansonsten nur wenig von tänzerischer Choreographie geprägten Abends, bewegt sich in einer anmutig-poetischen und zugleich surreal-makabren Szene mit den Händen einer anderen Tänzerin. Womit die Pole des in seiner Subjektivität radikalen, immer wieder an filmische Techniken (und Horrorstreifen) erinnernden Tanz-Theaters emotionaler Extremzustände bis hin zum titelgebenden Zustand benannt sind.
Was sagt eine Wand zur anderen? Wir treffen uns an der Ecke.
Benedicte Mottart betritt die Bühne wie ein nasser Pudel, das Wasser tropft auf ihre nackten Füße. Von einer Schmetterlingssammlung ist die Rede und davon, dass sie sich wie ein aufgespießtes Insekt fühlt. Sie tanzt mit Alexis Fernandes Ferrera, bald haben beide blaue Farbe an ihren Händen und an ihrer Kleidung. Später wird Benedicte Mottart mit einer über den Kopf gestülpten Plastiktüte erscheinen und von ihrem Vater sprechen.
Sehen Sie den Wald vor lauter Bäumen?
Said Gamal Sayed Mohamed kämpft mit Kabelsalat, später macht er mit grandioser Körperakrobatik staunen wie im Variete et cetera an der Herner Straße. Es geht um Liebe und das ganze Durcheinander, irgendwie auch um Glücksspielautomaten. Das „Puzzle eines fiktiven Lebens“, so Dramaturg Sascha Kölzow im Vorgespräch, offenbart sich als so assoziativ und verklausuliert, dass man rasch die Suche nach einem Roten Faden aufgibt.
Apropos Faden. Die einfachsten Bilder sind immer noch die besten, und von denen hat Julio Cesar Iglesias Ungo eine Vielzahl auf Lager: Luft-Gitarre mit Bindfaden, furioses Solo mit Stühlen, sportive Sprünge in einen Licht-Kasten und, dank zahlreicher Öffnungen zu beiden Seiten, aus diesem auch wieder heraus. Wenn das mit der Verarbeitung der eigenen Alpträume und dem Sich-selbst-Beobachten außerhalb des eigenen Körpers doch auch so selbstverständlich-simpel funktionierte!
Wenn du die Schatten nicht schlagen kannst, werde einer von ihnen.
„Out of Body“ ist eine düstere, bisweilen gar gruselige Angelegenheit und jedenfalls nichts für ängstliche Gemüter – und schon gar nichts für kleine Kinder! Dennoch: die dritte „Renegade in Residence“-Produktion hat die bisher außerordentlich gute Zusammenarbeit zwischen Zekai Fenercis Herner Pottporus/Renegade-Truppe, die nicht auf eine festes Ensembles setzt, sondern sich aus einem Pool von derzeit 78 Tänzern immer wieder neu zusammensetzt, und dem Schauspielhaus Bochum um eine weitere Handschrift bereichert. Bochums Intendant Anselm Weber hat die zunächst auf drei Jahre vereinbarte Kooperation verlängert, so können wir uns auf weitere spannende, vielleicht ja auch wieder unbeschwert-heitere Tanzabende an der Königsallee freuen.
Pitt Herrmann
Julio Cesar Iglesias Ungo
Out of Body
Renegade in Residence: Pottporus/Renegade Herne c/o Schauspielhaus Bochum, Kammerspiele