Ausgangssperre in Theben. Jupiter liebt, in Gestalt Amphitryons, Alkmene. Sosias, der Sklave des Feldherrn Amphitryon, wird auf dem Nachhauseweg von Merkur seines Namens beraubt. Charis glaubt, einen Gott zu Haus zu haben und kocht ihm Kohl. Das Militär und Alkmene wählen den falschen Amphitryon zum wahren. Die Verwirrung nimmt – Gott sei Dank – ein Ende. Amphitryon wünscht sich von seinem Doppelgänger Jupiter ein Kind. Alkmene gebiert zweieiige Zwillinge. Herakles, ihr Göttersohn, endet auf dem Scheiterhaufen.
Es ist eine etwas eigenwillige Inhaltsangabe des Kleistschen Stücks „Amphitryon“, das den Untertitel „Ein Lustspiel nach Moliere“ trägt, die Leander Haußmanns Dramaturgin Dimitra Petrou im Vorfeld der ersten Bochumer Inszenierung Dimiter Gotscheffs, die am 3. November 1995 ganze Heerscharen von Kritikern an die „Kö“ lockte, verbreitete. Nach gut drei Stunden verließ Peter Iden von der „Frankfurter Rundschau“ als erster sichtlich genervt das Parkett beim naturgemäß tosenden Schlußapplaus. Benjamin Henrichs versprach später in der „Zeit“ sogar, wiederzukommen – verbunden allerdings mit einem Lob für den Charme des Novotels am Ruhrstadion.
Ausstatter Achim Römer hat bereits in den Foyers des Großen Hauses ganze Arbeit geleistet: Sie sind vom Flaumfedern übersät, als habe Frau Holle überreichlich alte Bettdecken geschüttelt. Des Rätsels Lösung ergibt sich bereits in der Eingangsszene: Jupiter und Merkur schweben vom Schnürboden-Himmel auf die Erde hinunter in einer kleinen Wolke weißer Federn.
Dimiter Gotscheffs Start an der Königsallee mit einem Stück, das für Georg Hensel „die vollkommene Entsprechung des Tragischen mit dem Komischen“ und in seinem „Geheimnis der reinen Heiterkeit“ die „schönste deutsche Kömödie“ ist – das mußte schiefgehen! Wenn schon Alkmenes finales, zart-hingehauchtes „Ach“ überdimensional am Portal des Schauspielhauses prangt inmitten des Kartoffeldruck-Herzens, dem strahlenumsäumten Logo des Bochumer Spaßtheaters.
Achim Römers Theater auf dem Theater hat einen güldnen Rahmen, eine güldne Souffleur-Muschel und setzt das Parketts mit seinem Tütchenlampen-Charme aus den Fünfzigern im hohen, kargen Bühnenraum fort. Sieht so, nach einem Verdikt des Haußmann-Vorgängers Frank-Patrick Steckel, das dann subventionslose deutsche Stadttheater in zehn Jahren aus – heruntergewirtschaftet als wäre Bochum Utzbach bei Butzbach und das Theaterschiff ein besserer Wirtshaussaal?
„Flieger, grüß' mir die Sonne...“: Unter dieser alten, politisch belasteten Ufa-Melodie schweben die beiden Göttlichen, Matthias Leja als Jupiter und Peter Jordan als Merkur, auf die Erde. Dann wird reichlich Kohl zerhackt, eine Anspielung auf die Mahlzeit, die später Charis (Judith Rosmair) ihrem vermeintlichen Sosias zubereiten will. Albernheiten dieser Art, vor allem dann auch obszöner Natur wie die Möhre, welcher der grazilen Schauspielerin gleich mehrmals derbe ins Hinterteil expediert wird, sollen wohl das Intendantenmotto „Viel Spaß!“ illustrieren. Über solche Altherrenwitze können jedoch selbst die alten Herren im Parkett nicht einmal müde lächeln.
Gotscheff setzt auf Comic-Sprechblasen-Theater. Das würde vielleicht Sinn machen bei der ursprünglichen Molierschen Fassung oder der Version von Peter Hacks. Bei Heinrich von Kleist, der sein Herzblut in „Amphitryon“ vergoß, wirkt das höchst deplatziert. So untermauert der Regisseur nur das Verdikt des FAZ-Theaterpapstes Stadlmair, Intendant Haußmann sei ein „Laufstallanarchist“ mit seinen kindlichen Späßen nach Art der Castorfschen Volksbühne am Berliner Luxemburg-Platz. Andererseits ist das überwiegend junge Publikum ganz entzückt von selbstbezüglichen Scherzen nach Art des Diadems des Labdakus, das in einer herzförmigen Schachtel steckt. „Froh zu sein bedarf es wenig“ erklingt es chorisch auf den Brettern – auch für den Spott sorgt das Haußmann-Team wenigstens selbst.
Das Ensemble – ein Panoptikum. Ralf Dittrich ist als Amphitryon kein verzweifelt Liebender in einer Identitätskrise, sondern ein ziemlich gewalttätiger Nußknacker, dem die Götter völlig zu recht Nüsse zu knacken geben, die an seinem martialischen Ego kratzen.
Matthias Leja gibt den Jupiter als geilen, obszönen Mephisto und Peter Jordan den Merkur als lächerlichen Otto Waalkes-Verschnitt. Joana Schümers Alkmene ist nicht nur in ihrer Stimmlage schrill und der Sosias des „bewegten Mannes“ aus Herne, Joachim Krol, ist 'mal ein armer Teufel von Woyzeck, 'mal ein tumber Kasper: „Ich bin ein Mensch, dort komm' ich her, da geh' ich hin.“ Ein beeindruckendes Bühnendebüt des trotz seines Bekanntheitsgrades sehr ensembledienlichen Filmschauspielers.
Beeindruckend auch Judith Rosmair als Charis, wenn auch nicht von Kleist: ein vulgärer Irrwisch, ein attraktives Persönchen, das keiner Gelegenheit zum Beischlaf aus dem Weg geht. Wie schon die Eingangsszene drastisch vor Augen führt: Charis und Merkur, Alkmene und Jupiter beim flotten Vierer auf einem gefährlich schaukelnden Bühnenwagen. Das hat mit Kleist natürlich nicht das geringste zu tun, im Gegenteil, es konterkariert die nachfolgende Handlung in völlig sinnloser Weise.
Bei Dimiter Gotscheff ist „Amphitryon“ ein drastisches, obszönes Sexualdrama, angereichert mit chrorischen Exerzitien eines Einar Schleef, mit „Les Freres Zenith“-Slapstick eines Jerome Dechamps, mit der unerschütterlichen Beharrlichkeit, leider aber nicht der Musikalität eines Christoph Marthaler und dem Szene-Spaß des Kölner Walter Bockmayer. In dem der Sosias des Wahl-Kölners Joachim Krol zum Esel mutiert und jeglichen Rest an Verstand verliert.
Diese arg klamottige Entkleisterisierung dauert drei Stunden und 15 Minuten. Immerhin kann, um mit dem ollen Goethe zu sprechen, von einem „klatrigen Ende“ nicht mehr die Rede sein: am Schluß gibt’s ein kollektives „Ach!“ an der Rampe und ein letztes „Ach“ von Sybille Hadulla-Kleinschmidt aus dem Souffleurkasten. Ach.
Pitt Herrmann
Heinrich von Kleist nach Moliere
Amphitryon
Schauspielhaus Bochum