Aus ist es mit dem Alpenglühen. Der Abend ist nicht mehr wunderbar. Traurig ist die Gegend. Nein, nicht die Gegend, aber das Leben ist traurig. Und ich sitz' da ruhig auf dem Fensterbrett. Und der Papa soll eingesperrt werden. Nein. Nie und nimmer. Es darf nicht sein. Ich werde ihn retten. Ja, Papa, ich werde dich retten.
Arthur Schnitzler: Fräulein Else
Fräulein Else ist eine 19jährige Tochter aus gutem Wiener Hause, die zusammen mit einer älteren Verwandten ihre Ferien in einer Nobelherberge in den Dolomiten verbringt. „Ein Luder will ich werden“: Sie liest französische Romane, träumt von Märchenprinzen, die sie in eine Villa an die Riviera entführen und davon, nackt auf warmen Marmorstufen zu liegen.
Doch das noch sprunghafte, Kindlich-Jungmädchenhafte ihres Wesens wird sozusagen Schicht für Schicht abgetragen, bis Else völlig schutzlos der skrupellosen Welt der Erwachsenen ausgeliefert ist. In San Martino erhält sie ein Telegramm von ihrer Mutter mit der dringenden Bitte, einen befreundeten Kunsthändler, Dorsday, um finanzielle Hilfe für ihren spielsüchtigen Vater zu bitten.
Doch Dorsday verlangt eine Gegenleistung: Else soll sich in seiner Suite im gleichen Hotel wie ihrem oder alternativ auf einer Wiese im Mondschein – für fünfzehn Minuten – nackt vor ihm ausziehen. Plötzlich blickt die junge Frau in einen Abgrund: „Ein Luder will ich sein, aber nicht eine Dirne.“ Else denkt immer stärker über Veronal als letzten Ausweg nach...
Für Arthur Schnitzler, den scharfen Analytiker der Wiener Gesellschaft der Jahrhundertwende und des fin de siecle, steht die menschliche Psyche im Mittelpunkt seines Interesses und damit auch seiner Werke. Auch seine Erzählungen, zu den wichtigsten gehört „Fräulein Else“ von 1924, entwickelt der „psychologische Tiefenforscher“, so Sigmund Freud zwei Jahre zuvor über Schnitzler, den er „aus einer Art von 'Doppelgängerscheu'“ nie aufgesucht hat, aus den Konflikten der menschlichen Seele.
Nachdem die junge Wienerin Agnes Riegl Ende November 2006 im „Theater unter Tage“ die Playstation-Reihe des neuen Schauspielhaus-Intendanten Elmar Goerden mit ihrer Version der in Form des inneren Monologs verfassten Erzählung unter dem Titel „Vielleicht von der Luft“ eröffnete, hat nun, heftig umjubelte Premiere war am 28. April 2012, Charlene Markow am Rottstr5Theater in Bochum den häufig dialogischen Charakter der Schnitzlerschen Prosa zur Vorlage eines eigenen Theaterstücks genommen.
Else 1: Soll ich Ihnen ein Geheimnis verraten? Aber nicht mitschreiben – lassen Sie den Stift fallen.
Else 2: Sie können mir alles sagen, Else, dafür bin ich da. Jedes Geheimnis ist bei mir sicher.
Else 1: Ich bin polymorph-pervers.
Else 2: ?
Else 1: Das bedeutet, jeder Teil meines Körpers bereitet mir sexuelles Vergnügen. Meine Füße, mein Knie, mein Bauch, meine Schultern, meine Ohren – das ist dionysisch.
Else 2: Sie sind mit Nietzsche vertraut?
Else 1: Wissen Sie, für eine Perlenkette oder ein Palais würde ich mit so ziemlich jedem vertraut werden.
Keine Frage, hier tritt uns binnen sechzig hochspannender Minuten eine ganz heutige Else entgegen, die wie ihre Altersgenossinnen keine Probleme damit hat, sich in der Öffentlichkeit zu präsentieren, und sei es auch 'mal nackt. Ganz im Gegenteil: Sie steht zu den „dionysisch“ erlebbaren erogenen Zonen ihres Körpers. Sie schämt sich daher auch nicht aus moralischen Gründen, sondern weil sie kein Geld hat, um ihren Vater vor dem Gefängnis zu bewahren.
Nach Joseph Conrads und Patrice Chereaus „Die Rückkehr“ nimmt Charlene Markow in ihrer zweiten dramatischen Arbeit an der Rottstraße die psychologische Ausgangssituation Schnitzlers, dass seine Figur ihre Konflikte mit sich selbst ausficht, zum Anlass, diese aufzuteilen. Else 2 (im adretten Outfit einer Karrierefrau: die Essener Folkwang-Absolventin Anja Signitzer) stellt bohrende, provozierend-inquisitorische Fragen an ihr um Antworten – und Erinnerungen - ringendes Gegenüber (ebenfalls erstmals als Gast unter den Eisenbahnbögen: Verena Schulz vom Schauspielhaus Bochum). Dass, wie eine Patientin in der „Geschlossenen“ auf einer kahlen Bank an Ketten gelegt und in einer Zwangsjacke verschnürt, erst langsam aus einer Ohnmacht erwacht, die aus einem hysterischen Anfall resultieren soll.
Else 1 bleibt völlig zu Recht skeptisch, zurückhaltend. Fühlt sich nicht nur körperlich in die Enge getrieben, sondern manipuliert. Treibt die Andere ein falsches Spiel mit ihr? Etwa, indem die Psychologin, der verblüffend, ja geradezu erschreckend detailreich die Biographie ihrer Patientin präsent ist, aus dem Brief deren Mutter zitiert mit den Zumutungen, die ihr bevorstehen sollen? Und darob, andererseits, selbst in Tränen ausbricht? Charlene Markow, auch für die düster-dräuende Ausstattungs-Kompilation aus skurriler Wiener Herzgruft, gruseligem Forschungslabor (mit Röntgenbildern menschlicher Schädel) und nackter Folterkammer zuständig, inszeniert, wie an diesem Hause üblich und häufig auch zur Perfektion gebracht, körperbetont (die an den Armen gefesselte Verena Schulz muss die Zigarette mit den Fußzehen halten), diesmal aber nur musikalisch laut. Und verweist zwischendurch mit kleinen, stummen Pantomimen auf das Finale der beiden „Ichs“ im Zimmer des hier zum Maler avancierten Kunsthändlers, das, wie wir wissen, im Foyer des Galahotels über die Bühne gegangen ist...
Pitt Herrmann
Charlene Markow nach Arthur Schnitzler
Fräulein Else
Rottstr5Theater Bochum