Man kann aus allem, aus jeder Situation, jeder Position, aus jedem Verhältnis „aussteigen“, kann sagen: „Das will ich nicht mehr; damit habe ich weiter nichts zu tun, davon löse ich mich.“ Nur aus einer Bindung, aus einer Verstrickung geht das nicht – aus der Verwandtschaft. Sag hundertmal: „Du bist nicht mehr meine Mutter, meine Tochter, mein Sohn, mein – Vater!“ Sag es, und du bleibst doch, was du warst und was du bist. Auch wenn du es nicht mehr sein willst, umsonst – da kommst du nicht heraus. Das ist die Verzweiflung des Niklas Frank, denn dieser Vater war eines der größten Monster der Geschichte.
Ralph Giordano: Vorwort zum Buch „Der Vater – Eine Abrechnung“ von Niklas Frank
Der Vater, von dem hier die Rede ist, heißt Hans Frank. Chopin-Liebhaber, sehr ordentlicher Pianist in den regelmäßigen familiären Hausmusikabenden, Kunstkenner, Freund von Gerhart Hauptmann, Schachspieler und Gentleman. Im privaten Umgang. In der Öffentlichkeit Nazi-Bonze, Hitler-Anwalt, Reichsminister, Generalgouverneur und Kriegsverbrecher, der als „Schlächter von Polen“ in die europäische Geschichte eingegangen ist.
Sein 1939 geborener Sohn Niklas rekonstruiert das Leben seines Vaters, indem er die Originaltexte aus dessen Tagebüchern mit sehr persönlichen, bisweilen gar entäußernden Kommentaren versieht: von der ersten großen Liebe zur Bankierstochter Lilly und der Heirat mit Brigitte über sein Verhältnis zu Adolf Hitler und anderen nationalsozialistischen Größen wie Himmler und Bormann sowie die Ernennung zum Generalgouverneur von Polen bis hin zum Nürnberger Prozeß und seinem durch Richterspruch erzwungenen Tod.
Der ebenfalls 1939 geborene israelische Dramatiker Joshua Sobol („Ghetto“, „Die Palästinenserin“) hat aus Niklas Franks 1986 erschienenem Buch ein Theaterstück geformt, eine Auftragsproduktion der Wiener Festwochen, die im Juni 1995 im „Theater an der Wien“ desaströse Uraufführung feierte: „Halbfertig, halblustig, halbstark“ ätzte „Theater heute“ über die Urinszenierung des österreichischen Schauspielers, Dramatikers und Filmemachers Paulus Manker, dessen Streifen „Der Kopf des Mohren“ mit Angela Winkler und Gert Voss gerade in unseren Kinos angelaufen ist. Manker hatte an der Wienzeile selbst die Rolle des Sohnes übernommen, während Fritz Schediwy und Jutta Hoffmann das Ehepaar Frank verkörperten. Doch diese Top-Besetzung half nichts: Nach nur drei Vorstellungen verschwand „Der Vater“ in der Versenkung.
Nun die Deutsche Erstaufführung ausgerechnet in Bochum, am Haußmannschen Spaßtheater der Republik. Ein gleich zweifaches Wagnis, ist die Regie doch mit Uwe Dag Berlin einem jungen, vom Deutschen Theater der Hauptstadt an die Ruhr gekommenen Schauspieler, Sänger und Regisseur anvertraut worden. Um es gleich vorwegzunehmen: Die Premiere Anfang Februar 1997 in den Kammerspielen war ein einzigartiger Triumph, für Joshua Sobol, für Uwe Dag Berlin, für den Intendanten Leander Haußmann und sein tolles Ensemble mit Stephan Baumecker als Niklas, Heiner Stadelmann als Hans und Steffi Kühnert als Brigitte Frank (und Adolf Hitler), mit Andreas Pietschmann, Manfred Böll, Steffen Schult und Irene Christ (Hans Franks Geliebte Lilly ist bei ihr ein naturgemäß blondes Superweib der Dreißiger Jahre) in den zahllosen anderen Rollen.
Uwe Dag Berlin stellt einen Zusammenhang her zwischen Leander Haußmanns Uraufführung „Germania III“, dem letzten Werk Heiner Müllers, und Sobols „Der Vater“: dort ein deutsch-deutsches Geschichtspanorama, hier eine irrationale, subjektive, radikale Haltung; dort ein philosophisch-literarischer Blick, hier eine Aneinanderreihung traumartiger, traumatischer, ja alptraumhafter Sequenzen, die mit der klassischen Dramaturgie kaum zu bewältigen ist. Die Kommentare des Sohnes, der seit Jahren als Auslandskorrespondent des „Stern“ tätig ist, muten, so Uwe Dag Berlin, fast schon pornographisch an in ihren persönlichen Entäußerungen. Welche Niklas Frank als eine Art Selbsttherapie erklärt: Er wolle sich mit ihnen von eigener Schuld lossprechen.
Sobols Drama trägt den Untertitel „Eine blutige Komödie“. Was Paulus Manker mit typisch austriakischem Furor dazu veranlaßt hat, nach dem Eingangsmonolog des Sohnes das Stationendrama nicht nur als Revue zu inszenieren mit einem von ihm selbst verkörperten Entertainer, sondern als völlig abgefahrene, rabenschwarze Hanswurstiade bis zum Epilog des Sohnes auf den in Nürnberg gehenkten Kriegsverbrecher. Bei Uwe Dag Berlin ist Niklas Frank dagegen über gut zwei hochspannende Stunden ein Schmerzensmann, der sich am tragischen Vater-Sohn-Konflikt abarbeitet. Uwe Dag Berlin focussiert auf den von der Gnade der späten Geburt geschlagenen Sohn und seine ganz persönliche Auseinandersetzung mit seinem Erzeuger.
In Hamster Damms bluttriefendem, grafittiübersähtem Bühnen-Environment ist linkerhand die Schiebetür eines Viehwaggons der Deutschen Reichsbahn, wie er für die KZ-Transporte Verwendung fand, situiert und gegenüber die eiserne Tür eines KZ-Verbrennungsofens. In der Mitte, im Bühnenhintergrund, die durch Säulen gebrochene Projektionsfläche für Dokumentarfilme über das Grauen im Dritten Reich: Sie werden eher beiläufig gezeigt, nicht effektheischend oder gar in Konkurrenz zum Bühnengeschehen tretend. So bleibt die Geschichte dauernd präsent – als Hölle auf Erden. So agieren Manfred Böll und Steffen Schult als „Die Letzten“ im Prolog als Gestalten der Hölle, als Engel des Todes.
Regisseur Uwe Dag Berlin hat das Textkonvolut Niklas Franks auf mehrere Schultern verteilt, auch auf die das Paters Sextus O'Connor (Manfred Böll als rotgewandeter Mephistopheles): Seine diabolische Priesterfigur ist eine Regiezutat, welche die zwielichtige Rolle der katholischen Kirche, zu der Hans Frank während der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesses konvertierte, stärker akzentuiert als Sobols Vorlage.
Uwe Dag Berlin durchbricht die Zeit- und Fiktionsebenen und bringt uns so das Stück ganz nahe. Auch mit eigenen Zutaten wie dem Quartett „Chor der Deutschen“, welches die Gefahr des bieder-bürgerlichen Neonazismus im Gewand harmlos erscheinender „guter“ Mitmenschen offenbart und so Parallelen zum Hauptkriegsverbrecher Hans Frank zieht, der sich ganz gentlemanlike als Kunstkenner, Schachspieler und Freizeitpianist gerierte.
Heiner Stadelmann als Hans Frank: Ein Intellektueller, ein Jurist zudem und damit einem Berufsstand angehörend, der Hitler zeitlebens zutiefst verhaßt war. Und dennoch ein Mann der ersten Stunde, ein Unantastbarer der „Bewegung“. Stadelmanns späterer „König von Polen“ gründet als bayerischer Justizminister ohne mit der Wimper zu zucken, quasi als bürokratischer Akt der laufenden Verwaltung, in Dachau das erste Konzentrationslager.
Andererseits ist er auch ein Getriebener – seiner ehrgeizigen Gattin Brigitte, die auch bei Steffi Kühnert daheim die Hosen an hat (und nicht zufällig mehrfach in die Rolle Adolf Hitlers schlüpft): Sie ist die treibende Kraft hinter dem Generalgouverneur Polens gerade in dem Bewußtsein, daß Frank auf diesen Außenposten weggelobt worden ist aus dem inneren Zirkel des NS-Staates.
Uwe Dag Berlins freier Umgang mit der Vorlage führt zu einem direkten Dialog Niklas Franks mit dem Vater über seine Buchveröffentlichung: „Mein Vater“ wäre der richtige Titel der Bochumer Fassung gewesen, die man dennoch mit Fug und Recht als eigentliche Uraufführung feiern kann. Den Epilog des Sohnes nach der Hinrichtung des Vaters spricht Stephan Baumecker als ein wie aus einem Murnau-Stummfilm entsprungener Untoter: der Schluß franst etwas aus. Dennoch ist der bei aller Betroffenheit große Beifall für Ensemble und Leitungsteam verdient: Uwe Dag Berlin bricht das Grauen durch makabre Komik, wird damit, ganz im Sinne eines George Tabori, dem Untertitel „Eine blutige Komödie“ gerecht.
Pitt Herrmann
Joshua Sobol nach „Der Vater – Eine Abrechnung“von Niklas Frank
Der Vater
Schauspielhaus Bochum, Kammerspiele