Wenn sie mit Schlachtermessern durch eure Schlafzimmer geht, werdet ihr die Wahrheit wissen.
Noch immer reißt dieser Satz Ophelias in Heiner Müllers „Die Hamletmaschine“ die kaum vernarbten Wunden unserer Zivilisation auf, pflügt den scheinbar sicheren Grund um, auf dem wir bauen – und auf den wir bauen. Wir leben im Zeitalter des Terrors und des Krieges gegen ihn, die ungelösten Widersprüche unserer gesellschaftlichen Ordnung lassen immer häufiger einzelne Renegaten und ganze Gruppen zum Schlachtmesser - oder zur Pumpgun – greifen, um ihre individuellen Vorstellungen von Wahrheit blutige Wirklichkeit werden zu lassen.
„Jede wahre Sprache ist unverständlich”. Dieses Zitat Antonin Artauds könnte das Motto sein für Heiner Müllers „Hamletmaschine”, einer Versuchsanordnung aus dem Jahr 1977, die Sibylle Broll-Pape Mitte Februar 2003 am Bochumer Prinz Regent-Theater in Szene gesetzt hat – zur Musik des Wanne-Eickeler Komponisten Eckard Koltermann. Auf den Spuren von Heiner Müllers nachtschwarzem Text erkunden beide die zunehmende Gewaltbereitschaft einer sich innerlich aufrüstenden Gesellschaft.
Der formalen Strenge der Dichtung wird musikalisch die Tradition des Streichquartetts entgegengesetzt: Hier verkörpert sich die Zwitterhaftigkeit einer das Bürgertum repräsentierenden Gattung, von der andererseits im Lauf der Geschichte immer wieder auch ästhetische Aufbruchimpulse ausgegangen sind. Das Streichquartett markiert damit die Sollbruchstelle zwischen Tradition und Revolution, die auch Heiner Müller in seinem Schreiben immer wieder aufgesucht hat.
Zwischen William Shakespeares „Hamlet” und grausamer Radikalität im Sinne Artauds ist dieses, so Müller, „Theater aus Gehirnströmen, aus Schädelnerven” angesiedelt, das vom Autor gar nicht für eine Aufführung vorgesehen war. Dennoch ist die „Hamletmaschine” immer wieder inszeniert worden: Zunächst als Abrechnung mit dem real existierenden Sozialismus vor dem Hintergrund der Aufstände 1953 in Berlin drei Jahre später in Budapest, später als Kritik am Rückzug des Individuums, das sich egozentrisch nur noch seinem Unterhaltungs- und Konsumbedürfnis hingibt, aus allen öffentlichen Angelegenheiten.
Auftritt Hamlet. Staatsbegräbnis des Vaters, Hamlet stoppt den Leichenzug vor Ekel vor der Ehe von Mörder und Witwe. Metapher Fleisch für Lüsternheit: „Es war ein Mann, nahm alles nur von allen.“ Der gerne sich selbst erspart geblieben wäre: „Man sollte die Weiber zunähen, eine Welt ohne Mütter.“
Auftritt Horatio, der Mitwisser von Hamlets Gedanken, „die voll Blut sind“. Er soll den Polonius spielen, welcher bei seiner reizenden Tochter Ophelia schlafen will.
Auftritt Ophelia. Der Racheengel mutiert zu Elektra. Hamlet wird zum Hamletdarsteller, zieht ihre Kleider an und weigert sich, Hamlet zu spielen. Zerreißung einer Fotografie mit dem Porträt des Autors Heiner Müller (diese Regieanweisung läßt Sibylle Broll-Pape vom Publikum vollziehen).
Ophelia im Rollstuhl. Haßmonolog auf die Welt in Artaudscher Dimension: „Nieder mit dem Glück der Unterwerfung. Es lebe der Haß, die Verachtung, der Aufstand, der Tod. Wenn sie mit Fleischermessern durch eure Schlafzimmer geht, werdet ihr die Wahrheit wissen.“
Sibylle Broll-Pape erkundet binnen 75 Minuten die zunehmende Gewaltbereitschaft einer sich innerlich aufrüstenden Gesellschaft. Die Hamletfigur (Leopold von Verschuer) steht zwischen den Fronten der Staatsgewalt einerseits und der Gewalt gegen den Staat andererseits. Ophelia (Maria Wolf) ist aus Sicht der Regisseurin und Prinz-Regent-Theater.Prinzipalin die dunkle Schwester Hamlets, der Prototyp einer Terroristin: Sie bricht aus der Opfer-Rolle der Frau aus, zertrümmert „ihre” Welt, setzt ein Fanal von Gewalt vor allem zur eigenen Befreiung.
Die Musik Eckard Koltermanns ist keine Untermalung der Handlung, sondern ein konstituierendes Element der Aufführung. Der Wanne-Eickeler hat mit dem Rahmen eines klassischen Streichquartetts bewußt „die” bürgerliche Musikform gewählt, da sie in der Geschichte immer auch für Innovationen steht. So mutiert die Bochumer Produktion beinahe zum „Melodram”, einer in unserer Zeit fast ausgestorbenen Gattung.
In Tom Haarmanns Spiegelkabinett wird das Maschinen-Subjekt, der auswechselbare Akteur, gleichzeitig auch der Autor, seine fiktive Figur und der Darsteller, immer wieder auf sich selbst zurückgeworfen: Die Bühne als optische Entsprechung der jähen Brüche des Textes, in denen Räume, Zeiten und Figuren ineinander übergehen.
Leopold von Verschuer agiert als Clown mit Krone über einer so altertümlich wie komisch anmutenden ledernen Kopfhaube, extemporiert munter drauflos, erzählt Witze, die der Autor im BE-Casino zum besten gab, als Koltermann einst am Schiffbauerdamm mit Heiner Müller arbeitete. Assoziativ verschleift er Slapstick und Pantomime bis zum Zerfleddern eines Tiefkühl-Geflügels („Fleisch zu Fleisch”), kritisiert die Wortwahl des Dramatikers, animiert das Publikum zum Zerreißen des Müller-Porträts, das beim Einlaß verteilt wird...
Maria Wolf, im roten Strickpulli der frühen RAF- „Genossinnen”, sagt ihren großen Haßmonolog, bei Müller Ausdruck der Hoffnung auf das emanzipatorische Potential der Frauen, seltsam gefühllos auf, sodaß dieser vollständig verpufft. Aber zu diesem Zeitpunkt ist das Publikum längst nur noch auf belanglose Heiterkeit getrimmt. Die „Hamletmaschine” als „Müllermaterial” verhunzt: Der Artaudsche Furor des Textes ist nicht ‘mal mehr zu erahnen. Die radikale Kopfgeburt ist auf den kleinsten gemeinsamen Nenner, die wohlfeile Konsumierbarkeit, reduziert.
Pitt Herrmann
Heiner Müller
Die Hamletmaschine
Prinz Regent Theater Bochum