Ein Märchen, ein Rätsel, ein Familiendrama, vielleicht gar ein Krimi? „Der alte Mann“ („Bleiben wir zu dritt“: Klaus Weiss) scheint nicht mehr gut zu sehen und weigert sich strikt, die Wohnung zu verlassen. Seine Frau ist verschwunden, wobei nicht klar ist, ob sie überhaupt noch lebt. Nur soviel wird deutlich: Er hat ihr Verschwinden vor offenbar bereits geraumer Zeit bis heute nicht verkraftet.
„Der junge Mann“ (mit Verve: Oliver Möller), sein Sohn, will Fische fangen unter dem Eis – und das mit einer Mütze, die ihm sein Vater ebenso zunächst verweigert wie die wärmenden Stiefel für sein nackten Füße. Überhaupt gibt sich der störrische Alte eher schroff und abweisend, obwohl er andererseits alle Mittel einsetzt, darunter auch höchst zweifelhafte, um die dreiköpfige Rest-Familie zusammenzuhalten.
„Das Mädchen“ (jungmädchenhafte Vater-Tochter auf dem Weg zur Frau: Karin Moog), seine Tochter, hilft dem Bruder und bringt allerlei Fundstücke mit nach Hause: einen Löffel, der auch ein kleines Boots-Ruder sein könnte, einen Schlüssel – und schließlich einen „Mann draußen“ (vornehmer Fremder, der immer wieder hinter dem Gaze-Vorhang auftaucht: Sascha Nathan), mit dem sie zum Tanzen ausgehen möchte und später vielleicht noch mehr...
Wer Stücke von Roland Schimmelpfennig gesehen hat, etwa „Die arabische Nacht“ (2001) und „MEZ“ (2002) am Bochumer Prinz-Regent-Theater oder zuletzt „Angebot und Nachfrage“ am Schauspielhaus Bochum, käme zumindest auf den ersten Blick nicht darauf, den 1967 in Göttingen geborenen Erfolgsdramatiker mit „Fisch um Fisch“ in Verbindung zu bringen.
Dabei ist das jEnde März 2006 von Lisa Nielebock im „Theater unter Tage“ inszenierte Stück sein Erstlingswerk, bereits 1993 entstanden und 1999 vom Autor selbst in Mainz urinszeniert: „Ich wollte etwas über das Haben und Nichthaben und das Wissen und Nichtwissen schreiben, über Wut, über Konflikte.“ Der Autor über seine Arbeit in Mainz: „Meine Erfahrung als Regisseur mit dem Text war, dass er unvermutet Räume aufmachen kann. Auch wenn er sich scheinbar manchmal Erklärungen entzieht, entwickelt sich innerhalb des Stücks eine eigene Logik, die die Figuren des Stücks fast um den Verstand bringt.“
„Fisch um Fisch“ ist nach der Uraufführung nur einmal nachgespielt worden, vor vier Jahren in Stuttgart, und harrte bis jetzt seiner Wiederentdeckung. Was erstaunt, da das Stück bereits einige durchgängige Motive und Charaktere der späteren, überaus erfolgreichen Werke Schimmelpfennigs vorwegnimmt: Variationen ein und desselben Satzes etwa, die häufig surrealistisch anmutende gleichzeitige Betrachtungsweise aus unterschiedlichen Perspektiven und nicht zuletzt das Scheitern der Figuren, die sich nach Veränderungen sehnen, ohne sie herbeiführen zu können.
„Fisch um Fisch“ kann man zunächst als Etüde auf das Absurde (und das absurde Theater eines Samuel Beckett, obwohl es dessen Dichte nicht erreicht) lesen: Fische werden, dazu noch mitten im Winter, mit der Mütze gefangen, ein vornehmer Fremder, der ausgerechnet in einem Fischladen französisches Tuch kaufen will, blutet aus dem Ohr, ein Fisch, den der Sohn gefangen hat, spricht in Versen und der alte Mann, der, um seine Tochter daheim halten zu können, auch vor inzestuösen Handlungen nicht zurückschreckt, mutiert, ganz nach archaisch-antikem Vorbild, zum zunehmend blinden Seher.
Man kann „Fisch um Fisch“ aber auch, wie Lisa Nielebock im Bochumer „Theater unter Tage“, als eine wenn auch rätselhafte und geheimnisvolle Familiengeschichte interpretieren, in der existentielle Fragen um Freiheit, Unabhängigkeit und den eigenen Weg, ins Leben zu finden, die Hauptrolle spielen. Die Regisseurin (zuletzt in Bochum „Phaidras Liebe“ und „Mein ist Dein Herz“): „Roland Schimmelpfennigs Welt ist nicht mehr wirklich greifbar, es gibt keine Sicherheiten mehr. Pubertät, das Erwachsenwerden, die Katastrophe des Nichtgelingens – am Ende bleibt die Familie ganz auf sich geworfen und der Versuch, auszubrechen, wird vollständig aufgegeben.“
Für diese Situation des Stillstands und der Ausweglosigkeit hat Kathrin Schlecht im „Theater unter Tage“ einen einerseits hermetisch abgeschlossenen Raum installiert, der andererseits die Grenzen zwischen Innen und Außen aufhebt: Neben einem Stuhl und einem Tisch, den einzigen Requisiten auf dem von Wasserlachen überzogenen Boden, hat der Herner Theaterplastiker Gert Angres rechterhand grüne „Binsen“ zu hohen, dichten Büscheln gruppiert.
Lisa Nielebock, die den Prolog vom Band aus dem Off sprechen lässt und sich in ihrer behutsam gekürzten Fassung nicht sklavisch an den (Neben-) Text des Autors Schimmelpfennig klammert, drückt in ihrer nur gut einstündigen Inszenierung mächtig aufs Tempo. Das am Premierenabend umjubelte vierköpfige Ensemble, allen voran Klaus Weiss als „Der alte Mann“, seit Genazinos „Lieber Gott mach mich blind“ eine sichere „Bank“ im Bochumer Ensemble Elmar Goerdens, überspielt mit alltäglich-lockerem Sprachduktus den Märchenton und legt so die absurde Komik der Vorlage frei.
Pitt Herrmann
Roland Schimmelpfennig
Fisch um Fisch
Schauspielhaus Bochum, Theater unter Tage