Regie-„Altmeister“ Wilfried Minks hat sich am 25. Juni 2004 am Schauspielhaus Bochum als ganz junger Wilder entpuppt: Seine knapp zweistündige Inszenierung von Friedrich Hebbels Tragödie „Judith“ kommt nicht nur, so Dramaturg Thomas Oberender, der selbst als Kriegsberichterstatter per Video zugeschaltet wird, als „eine der frühesten Nahost-Geschichten, die wir kennen“ daher, sondern auch als ein grotesk übersteigertes Blut-und-Hoden-Spektakel.
Angeregt vom Judith-Gemälde Domenichinos in der Münchner Pinakothek hat Hebbel seine erste Tragödie 1839/40 in Hamburg in bewusster Auseinandersetzung mit der idealistischen Sicht Friedrich Schillers in dessen „Jungfrau von Orleans“ (mehr dazu in zwei intelligenten Textbeiträgen Oberenders im Bochumer Programmheft) nach dem apokryphen Buch des Alten Testamentes geschrieben. Sie ist am 6. Juli 1840 im Berliner Hoftheater uraufgeführt worden und gilt als Durchbruch des Dramatikers Hebbel, der sich später freilich von seinem „übermütig wilden Jugendwerk“ (1852) distanzierte.
Die Juden in der Stadt Bethulien sind von Holofernes, dem assyrischen Feldherrn des Königs Nebukadnezar, umzingelt. Ihre Lage erscheint, abgeschnitten von allen Vorräten, aussichtslos. Die jungfräuliche Witwe Judith geht geschmückt ins feindliche Lager, um Holofernes zu töten. Nach gelungener Tat kehrt sie triumphierend nach Bethulien zurück, die Assyrer fliehen.
Hebbel feiert einerseits die heroische Befreiungstat der gläubigen Jüdin auch als Sieg des Judentums über den sich selbst vergottenden Heiden, andererseits schildert er seine Titelfigur als von Holofernes erniedrigtes, vergewaltigtes Weib, das die Tat vor allem aus persönlicher Rache begeht, weil sich der Feldherr zwischen sie und ihren Gott gedrängt hat.
Wilfried Minks, auch für die Bühne verantwortlich, reduziert das Figurenarsenal um die Hälfte auf ein Dutzend Personen und kommt, vom Rotstift besonders in den ersten drei von fünf Akten reichlich Gebrauch machend, rasch zur Sache. Und die ist im 21. Jahrhundert angesiedelt: Holofernes (überragender Gast aus Köln: Martin Reinke), in einen Boxer-Mantel gewandet mit „The First“-Schriftzug auf dem Rücken, lümmelt sich lässig im Chef(liege)sessel, im Schoß eine Kugel, die einer der drei mächtigen Kanonenrohre im Hintergrund entstammen könnte. Links auf einem Podest das Modell der belagerten Stadt Bethulien, rechts die Koffer und Kisten des Heerlagers und, als Zeichen der Nobilität, ein Lüster. Später zeigt der Bühnenprospekt eine Szene aus dem aktuellen „Golfkrieg“.
Martin Reinke gibt den Feldherrn als eisenharten Burschen, der mit einem Lächeln auf den Lippen über Leichen geht und diese auch noch ausweidet, um deren Hoden zu essen als stammten sie von Stieren, der sich nach einem Dolchstich selbst die Wunde zunäht, der sich gelangweilt nach ebenbürtigen Gegnern sehnt und sich offen den Befehlen seines Königs widersetzt. Ein Kotzbrocken von Mannsbild, aber in seiner selbstgefälligen Überheblichkeit auch ein Objekt weiblicher Begierde aus heutiger Sicht?
Offenbar für Judith, die Dörte Lysseswski sinnlich, zielstrebig, mutig, tollkühn und doch auch berechnend gibt. Ihr spontaner Ausspruch: „Ich will ihn sehen“ nach Ephraims Charakterisierung des Holofernes kommt ganz ohne Hebbelschen Schauer über die eigene Kühnheit aus. Der Bochumer Ensemble-Star, im gleichen Jahr für ihre Rollen in „Hedda Gabler“ und „Die Wahlverwandtschaften“ mit dem renommierten Eysoldt-Ring ausgezeichnet, leidet unter der verengten Rolleninterpretation des Regisseurs, die der kammerspielartigen Reduktion der Vorlage geschuldet ist.
Wilfried Minks fokussiert stärker auf den „modernen“ Kriegsherren, den hemmungslosen, sich über alle zivilisatorischen Regeln hinwegsetzenden Machtmenschen als auf die, so Dramaturg Thomas Oberender, „Geschichte einer Attentäterin“. Die am Ende nicht im Triumphzug in ihre Heimatstadt einzieht, sondern die blutige Lagerstatt des geköpften Feldherrn als geschlagene Frau verlässt mit nur einer Hoffnung, dass sie von Holofernes kein Kind empfangen hat.
Als Ephraim, ein vergeblich um die Zuneigung Judiths buhlender Bethulier, dessen Mordanschlag auf Holofernes missglückt, überzeugt der junge Silvester von Hösslin, ein Gast aus Zürich, der neuen Station des Bochumer Intendanten Matthias Hartmann, ebenso wie die sehr zurückhaltend agierende Tana Schanzara als Judiths Magd und Vertraute Mirza.
Pitt Herrmann
Friedrich Hebbel
Judith
Schauspielhaus Bochum, Kammerspiele