Martha: Denn, nicht wahr, Heimat kann man diese zähe, lichtlose Erde nicht nennen, in der man blinden Tieren zur Nahrung dient.
Maria: O mein Gott, ich kann, ich kann diese Sprache nicht ertragen.
Eigentlich wollte Jürgen Kruse Anfang September 1999 seine letzte Bochumer Spielzeit mit Arthur Millers „Tod eines Handlungsreisenden“ eröffnen, doch eine langwierige Erkrankung des Schauspielers Jürgen Rohe machte eine Neuplanung „über Nacht“ notwendig. Kruse hatte sechs Jahre zuvor in Freiburg bereits „Das Missverständnis“ von Albert Camus inszeniert, „lustig und spannend wie ein Thriller von Alfred Hitchcock“. Nun erinnerte er sich daran – und fand in Veronika Bayer, Patrick Heyn und Judith Rosmair (Martha) eine Idealbesetzung für einen enormen Publikumserfolg nach der Premiere am 18. September 1999 in den Kammerspielen.
Gerechtigkeit und Revolte, Gott und Geschichte, Christentum und Kommunismus sind die Themen, die Camus zeitlebens (1913-1970) beschäftigt haben. 1942 erschien seine Erzählung „Der Fremde“, in der er das Einzelschicksal ins Symbolische überhöhte, und aus der das Motiv seines Stücks „Das Missverständnis“ stammt, dessen ursprünglicher Titel „Budejovice oder: Gott gibt keine Antwort“ lautet (die Zeitungsnotiz in „der Fremde“ bezieht sich auf ein Ereignis in der Tschechoslovakei). „Der Fremde“ erzählt die Geschichte eins jungen Franzosen, der unter der unerbittlichen Sonne Algiers bar aller Bindungen ohne Liebe und Teilnahme gleichgültig dahinlebt, bis ihn ein lächerlicher Zufall zum Mörder macht.
In „Das Missverständnis“ betreiben Martha (Judith Rosmair) und ihre Mutter (Veronika Bayer) in einer gottverlassenen Gegend ein Gasthaus. Was wörtlich zu nehmen ist: die Herberge ist eine Mördergrube. Seit Jahren ermorden die beiden Frauen ihre Gäste, um mit dem Geld ihrer Opfer eines fernen Tages ein neues Leben in einem fernen, sonnigen, südlichen Land am Ufer eines Meeres zu beginnen.
Nach zwanzig Jahren kehrt Jan (Patrick Heyn) ins elterliche Haus zurück – unerkannt von Mutter und Schwester. Und so ereilt ihn das Schicksal seiner Vorgänger. Als die Mörderinnen die gräßliche Wahrheit erfahre, folgen sie Jan in den Tod. Zurück bleibt allein Jans junge Frau Maria (Elena Meißner) – ohne Hoffnung auf die Hilfe des Herrn (Manfred Heine).
Jürgen Kruses knapp zweistündige Inszenierung hat auf den ersten Blick nur wenig mit Camus' Existenzialismus zu tun, auch wenn, besser: gerade weil eine hinzuerfundene und ansonsten stumme Figur diesen Begriff ständig in den Mund nimmt und wie einen Mahnruf wiederholt. Die Übersetzung von Guido G. Meister wurde „neu durchgesehen“. Dabei herausgekommen ist eine Bochumer Fassung mit vielen modernistischen, überflüssigen Zutaten und einem verblüffend stimmigen Kunstgriff: die Sprache wird verknappt und erinnert so an den frühen Kroetz-Realismus.
Diese rudimentäre Sprache sorgt in der gewaltigen Simultanbühne Steffi Bruhns, dem Aufriß der zweistöckigen Herberge, für ungeheures Tempo, das gepaart mit der unbändigen Spielfreude vor allem der mit Ovationen gefeierten Judith Rosmair und Patrick Heyn aus dem dreiaktigen Schauspiel beinahe einen einaktigen Reißer macht, unterbrochen nur von choreographierten Zwischenspielen und dem obligatorischen Kruse-Soundtrack.
Symbolismus mit dem Holzhammer, das ist Jürgen Kruses Ding. „39 Stufen“ steht an jedem Treppenabsatz zur Linken, Alfred Hitchcock läßt grüßen. Der „Dritte Mann“ taucht als Westernheld mit enormer Flinte gleich mehrfach an Fenstern und Wänden auf – John Wayne is watching you. Und Judith Rosmair trägt ein T-Shirt mit dem Jesushaupt unter der Dornenkrone, später wird Gottvater (Manfred Heine) aus der Bibel zitieren.
Dazu eine ohrenbetäubende Geräuschkulisse: Meeresrauschen, Hundegebell, Babygekreisch, Katzengejaule - und immer wieder die „Existenzialismus!“-Rufe. Eine Herberge zum verrückt werden. „Sag mir, wo die Blumen sind“ singt die Mutter und eine Axt steckt rechterhand in einem Holzstumpf, der Stil entspricht einem christlichen Kreuz, das einmal mehr in Neonversion über den Köpfen der Parkettbesucher leuchtet. Symbol über Symbol, akustisch, optisch, sprachlich als babylonisches Gewirr der Idioms und Sprachen.
Das kennt man alles von anderen Kruse-Inszenierungen, auch die Exaltiertheit Judith Rosmairs, die ihrem Bewegungsdrang diesmal ohne Trampolin-Einsatz ausgiebig nachkommen kann. Grazil, hibbelig, hypernervös, neurotisch bis an die Grenze des Erträglichen: Tango mortale. Kruse vermeidet durch das mörderische Tempo einmal mehr jeden Verdacht, Anhänger des literarischen Theaters zu sein. Und dennoch überzeugen seine bildmächtigen und dabei sehr theatralischen szenischen Erfindungen auch in dieser völlig überhitzten Inszenierung. Und die sattsam bekannten verbalen Assoziationsketten machen in ihrer dadaistischen Absurdität auf einmal überraschend Sinn.
Ein dadaistischer Camus – ein Missverständnis? Der Titel des Stücks fordert zu diesem Sprachspiel förmlich auf: vom Existenzialismus über das Pflaumenmus zum Orgasmus. Kruse übertreibt wieder maßlos und kommt damit der aktuellen Befindlichkeit im Ensemble, wo viele bereits auf gepackten Koffern sitzen und auf ein Anschlußengagement außerhalb Bochums hoffen, sehr nahe.
Pitt Herrmann
Albert Camus
Das Missverständnis (Le Malentendu)
Schauspielhaus Bochum, Kammerspiele