In der 1595 in London uraufgeführten Tragödie „Romeo und Julia“ von William Shakespeare, die nach wie vor – und das zeigen etwa die Bearbeitungen vom Revier-Volksstück im Wanner Mondpalast bis hin zum Rap-Musical „Rumble“ in den Herner Flottmannhallen – als „das“ große Liebesdrama der Weltliteratur gilt, treffen im Verona des beginnenden 15. Jahrhunderts zwei Abkömmlinge der seit jeher miteinander verfeindeten Familien Montague und Capulet aufeinander.
Bei einem Fest der Capulets trifft der junge Romeo Montague (Johannes Zirner) auf die vierzehnjährige Julia Capulet (Julie Bräuning) – und beide trifft diese unvermutete Begegnung wie ein Blitz aus keineswegs heiterem Himmel. Die beiden Liebenden lassen sich vom Franziskanerbruder Lorenzo (Jost Grix), der sich von der Verbindung die Versöhnung der Familien verspricht, heimlich trauen.
Bei einem Streit zwischen dem Capulet Tybalt (schön böse: Patrick Heyn) und Romeo, den ersterer mit Mercutio (zusammen mit Andre Meyer ein unschlagbar clowneskes Duo: Fabian Krüger) ausficht, wird letzterer tödlich verwundet, weshalb Romeo, um seinen Freund zu rächen, Tybalt ersticht. Der Prinz von Verona (fungiert zur Musik Paolo Contes zunächst auch als Spielleiter: Manfred Böll) verbannt daraufhin Romeo aus der Stadt.
Bevor dieser in Mantua Zuflucht sucht, verbringt Romeo heimlich die „Hochzeitsnacht“ mit Julia, die von ihrem Vater zur Heirat mit dem Grafen Paris (Thomas Büchel) gezwungen werden soll. Um Hilfe gebeten, verabreicht Bruder Lorenzo Julia einen Trunk, der sie 42 Stunden in einen todesähnlichen Schlaf versetzt.
Romeo, den die Nachricht Lorenzos nicht rechtzeitig erreicht, glaubt, dass Julia, die aufgebahrt in der Familiengruft der Capulets liegt, gestorben ist. Er tötet den Grafen Paris und vergiftet sich neben der vermeintlichen Leiche der Geliebten. Als diese neben dem toten Romeo erwacht, stürzt sie sich selbst ins Messer. Erst im Angesicht der beiden toten Kinder versöhnen sich die Familien.
Der erst 26jährige Regisseur David Bösch hat Ende Oktober 2004 in den Bochumer Kammerspielen eine starke, nur zweieinhalbstündige Strichfassung „als Panorama von jugendlichen Empfindlichkeiten“ (Dramaturg Andreas Erdmann) inszeniert, in dem junge Leute im Mittelpunkt stehen, die „zum größten Teil daran scheitern, dass sie nicht in der Erwachsenenwelt ankommen.“
Die Übersetzung Thomas Braschs bietet dafür ebenso eine treffliche Grundlage wie das Bühnenbild von Volker Hintermeier: Waschbeton und Wasserbecken bereiten den Boden für ekstatische Gefühlseruptionen (der beiden heftig Liebenden und romantisch Träumenden) und geradezu elektrisierende Fechtszenen (Klaus Figge hat sie mit den jungen Heißspornen eingeübt).
Ein grandioser Publikumserfolg trotz allerhand Klamauk und (sprachlicher) Anzüglichkeiten, der auch Martina Eitner-Acheampong (als augenzwinkernd-verschmitzte Amme Julias), Bernd Rademacher (der als Capulet auch in die Rolle eines Entertainers schlüpft) und Jele Brückner (als seelisch verkrüppelte, stumme Lady Capulet) zu verdanken ist.
Bevor nun David Bösch, der 2006 als Hausregisseur ans Essener Grillo-Theater wechselt, als neuer Stern in den Regietheater-Himmel gehoben wird, wie von lieben Kollegen flugs geschehen, sei daran erinnert, dass der gebürtige Ostwestfale mit Bochumer „Theater total“-Wurzeln mit seiner ersten großen Regiearbeit anknüpft an Leander Haußmanns grandiose, viereinhalbstündige Inszenierung am Bayerischen Staatsschauspiel München, die nicht nur im Residenztheater, sondern 1993 auch beim Berliner Theatertreffen für Furore bei Publikum und Kritik sorgte.
Mit dem zupackenden Guntram Brattia als Romeo, der mädchenhaft-naiven Anne-Marie Bubke als Julia, der überragenden Margit Carstensen als ihre im Leid erfahrene und um das Erdulden ihres Standes wie ihres Geschlechts wissende Amme – und Ralf Dittrich als der commedia dell’arte entsprungenen Kunstfigur Naso, ein Pantomime, der in bester Brecht-Manier durch das turbulente Geschehen führt und dieses kommentiert. Selbst Ralf Dittrichs Schnipsen mit den Fingern, das in München wie von Zauberhand geleitet Magisches auslöste, taucht jetzt in Bochum wieder auf.
Schon damals inszenierte der seinerzeit designierte neue Bochumer Intendant keine „familiäre“ Auseinandersetzung zweier miteinander verfeindeter Familien im alten Verona, sondern einen ganz heutigen Generationenkonflikt – und die Tragödie zweier junger Menschen, die in und an unserer Gesellschaft scheitern.
Gabriele Köster gab die Gräfin Capulet als obszön-kecke, unbefriedigt-lüsterne Ehegattin, die der Tochter Julia nichts anderes wünscht als das Ehejoch, das ihr beschieden worden ist. Und die „jungen Wilden“ an der Seite Romeos gerierten sich als Lederjacken-Gang: Die Montagues und die Capulets als Jugendbanden unserer Tage, die den Kampf nicht aus Familientradition führen, sondern als Spiel, als Freizeitvertreib auffassen – und sehr erschrocken reagieren, als, quasi aus Versehen, blutiger Ernst daraus wird.
Wie sich die Zeiten (doch nicht) ändern! Jedenfalls: Alle erreichbaren Vorstellungen nach der Premiere waren ausverkauft dank eines Riesenansturms besonders des ganz jungen Publikums, dessen Nerv David Bösch auf den Punkt genau getroffen hat.
Pitt Herrmann
William Shakespeare
Romeo und Julia (Romeo and Juliet)
Schauspielhaus Bochum, Kammerspiele