Im Juni 1928 liest Federico Garcia Lorca eine Zeitungsmeldung, nach der in der Nähe eines Bauernhofes in der spanischen Provinz unter mysteriösen Umständen ein Verbrechen geschah: Am Morgen der Hochzeit warteten der Bräutigam und die Festgesellschaft vergeblich auf die Braut. Als nach ihr gesucht wurde, fand man acht Kilometer vom Hof entfernt die Leiche eines Vetters der Braut...
Aus diesem Stoff formte Lorca eine „lyrische Tragödie“, die 1933 in Madrid uraufgeführt wurde und elf Jahre später erstmals auf deutsch (in Zürich) zu sehen war. Jürgen Kruse, angeregt durch das Schlüsselerlebnis einer „Bluthochzeit“-Inszenierung 1974 in Köln, die ihn zum Theater gebracht haben soll, hat sie im April 2004 in den Kammerspielen Bochum herausgebracht: Eine Gelegenheit mehr für den einstigen Hausregisseur des Intendanten Leander Haußmann zu einem grandiosen, dreieinhalbstündigen Spektakel in aufwendiger Ausstattung (Volker Hintermeier und Caritas de Wit) und mit naturgemäß reichhaltig bestücktem Plattenschrank.
„Agua para tu amor“ („Wasser für deine Liebe“) leuchtet in blutroten Lettern auf dem Gazevorhang der Kammerspiel-Bühne: Der Dichter ist in Person des pausenlos auf einer Schreibmaschine klappernden Dramaturgen Martin Fendrich stets präsent auf der Galerie der halbkreisförmigen Environment-Bühne (mit dem Werbeleuchtschild des einstigen Trikotsponsor des VfL Bochum, Osborne Veterano): Kruse hat biographisches Material mit in sein Gesamtkunstwerk eingebaut (so die Tatsache, dass der linke Gesellschaftskritiker Lorca von den Franco-Faschisten umgebracht worden ist) und verweist zudem auf langjährige Weggefährten wie den surrealistischen Maler Salvador Dali und den Filmemacher Luis Bunuel – Künstler, mit denen sich Jürgen Kruse seelenverwandt fühlt, übrigens auch was ihren exzessiven Lebenswandel betrifft.
Wie kaum in einer Inszenierung zuvor hat sich Kruse so eng an die Vorlage gehalten: Nach den strengen Ritualen der Konvention ist eine Bauernhochzeit arrangiert worden. Die Mutter (archaische Strenge: Veronika Bayer, wie die Darstellerin der Dienstmagd, Renate Becker, schon vor 30 Jahren in Köln dabei) hat für ihren Sohn (Johannes Zirner) beim Vater der Braut (Ritter von der traurigen Gestalt: Manfred Böll) geworben. Nun endlich kommt Besitz zu Besitz, eine erste Verbindung der Braut (vibrierende Leidenschaft: Julie Bräuning) mit Leonardo (Johann von Bülow) scheiterte noch an dieser Grundvoraussetzung.
Der Bräutigam liebt die Braut, und die Braut ist entschlossen, seine Frau zu werden. Alles geht den gewohnten Gang: Das Sakrament der Ehe besiegelt den Bund, die Hochzeit wird gefeiert, zu der auch Leonardo mit Gattin (ebenbürtige Rivalin: Catherine Seifert als hoffnungslos Liebende) eingeladen ist. Doch noch bevor die (Hochzeits-) Nacht kommt, ist die Braut verschwunden – und mit ihr Leonardo.
Am bitteren Ende haben sich die beiden Rivalen, zumindest bei Lorca, erstochen. Bei Kruse umarmen sie sich zunächst freundschaftlich (eine Anspielung auf Lorcas Homosexualität ?), bevor sie mit Holzfäller-Äxten aufeinander losgehen. Und die Frauen tragen das Leid. Die Mutter, die bereits ein Kind durch Blutrache verloren hat und das Unabwendbare schon früh ahnt, als sie das Messer verflucht, mit dem der ihr verbliebene Sohn nur Trauben vom Weinstock schneiden will. Die noch jungfräuliche Braut, die nicht nur den Gatten und den Geliebten verliert, sondern auch die gesellschaftliche Anerkennung. Die Witwe Leonardos, die nun zu einem trostlosen Leben innerhalb der stets verschlossenen häuslichen Wände verdammt ist. Ihr bleibt immerhin , das Kind aufzuziehen.
Und dennoch ist ein typisches „Krusical“ dabei herausgekommen. Blut fließt reichlich, der Tod (die großartige, sinnliche Wiebke Frost als weiblicher Sensenmann) ist allgegenwärtig wie der Mond (Patrick Heyn), letzterer jedoch nicht als Freund der Liebenden, sondern als bleicher Todesbringer, der die Flüchtenden ihren Verfolgern ausliefert. Und besonders im ausufernden zweiten Teil nach der Pause wird Literarisches assoziiert von Goethe bis Shakespeare – und überreichlich gekalauert. „Nun. Und selbst?“ fragt am Ende der Brautvater, an der Rampe sitzend, ins Publikum. „Muss“ befand frei nach Fritz Eckenga ein Großteil der Kritiker. Das Publikum aber spendet allabendlich vor so gut wie ausverkauftem Haus begeistert Beifall.
Pitt Herrmann
Federico Garcia Lorca
Bluthochzeit
Schauspielhaus Bochum, Kammerspiele