Werther – Tod. Schmerz. Liebe.
Was ich von der Geschichte des armen Werthers nur habe auffinden können, habe ich mit Fleiß gesammlet, und leg es euch hier vor, und weis, daß ihr mir’s danken werdet. Ihr könnt seinem Geist und seinem Charakter eure Bewunderung und Liebe, und seinem Schicksaale eure Thränen nicht versagen. Und du gute Seele, die du eben den Drang fühlst wie er, schöpfe Trost aus seinem Leiden, und laß das Büchlein deinen Freund seyn, wenn du aus Geschick oder eigner Schuld keinen nähern finden kannst.
Vorwort zu: Die Leiden des jungen Werthers. Erster Theil. Leipzig, in der Weygandschen Buchhandlung. 1774
Das Bochumer „Werther“-Monodram, ein Repertoire-Dauerbrenner an der Rottstraße nun bereits im dritten Jahr, beginnt in dem circensisch anmutenden Bühnen-Environment mit Netz, aber ohne doppelten Boden, wie ein Hörspiel mit der Erzählerstimme aus dem Off. Nicht gerade O-Ton Goethe, aber ganz in seiner Diktion: Das Wort „konvulsivisch“ zieht sich wie ein Roter Faden durch den Text als akustische Einstimmung auf das folgende keineswegs nur optische Blitzlichtgewitter, das auf den kreatürlich nackten Protagonisten einschlägt wie auf das Publikum.
„Er kramte den Abend noch viel in seinen Papieren, zerriß vieles und warf’s in Ofen, versiegelte einige Päkke mit den Addressen an Wilhelmen“: Arne Nobel, blutüberströmt, als habe Werther den Selbstmordversuch überlebt, wütet dem Wahnsinn nah wie ein im Käfig eingesperrtes Zootier zwischen Gitterstäben und schaukelnder Lagerstatt. Verbrennt Papiere in einer Schale, hadert mit Gott und der Welt, vor allem aber mit sich und seiner jegliche Kategorien sprengenden obsessiven Liebe zu einem Highschool-Mädchen. Arne Nobels Werther ist ein Atlas des 21. Jahrhunderts, der an der Kugel allzu schwer zu tragen hat.
„Hier Lotte! Ich schaudere nicht den kalten schröklichen Kelch zu fassen, aus dem ich den Taumel des Todes trinken soll! Du reichest mir ihn, und ich zage nicht. All! All! so sind all die Wünsche und Hoffnungen meines Lebens erfüllt! So kalt, so starr an der ehernen Pforte des Todes anzuklopfen.“ 237 Jahre später hört sich das freilich ungleich banaler an – und reichlich weinerlich: „Ich hatte doch nie eine Chance...!“
Hans Dreher und Arne Nobel zäumen das Pferd von hinten auf, erzählen die sorgfältig mit Datum versehene Chronologie des einst so wirkungsmächtigen Briefromans von seinem aufwühlenden, blutigen und mit reichlich Pathos aufgeladenen Ende her, um zum guten Schluss am wundervoll poetisch-romantischen Anfang anzukommen: „Warum ich dir nicht schreibe? Fragst du das und bist doch auch der Gelehrten einer. Du solltest rathen, daß ich mich wohl befinde, und zwar – Kurz und gut, ich habe eine Bekanntschaft gemacht, die mein Herz näher angeht.“
Wenn der Schmerz allmählich nachlässt beiderseits des Netzes, das Schauspieler und Publikum trennt wie eine Rampe, wenn dieses Netz eingeholt werden kann, weil Stück und Darsteller in ruhigeres Fahrwasser geraten, dominieren nicht mehr nur die bisweilen geradezu animalischen Reflexe, sondern bleibt Zeit zur Reflektion – und zur letztlich viel zu sparsam eingesetzten Ironie („Nicht die hellste Kerze auf der Torte“).
Arne Nobels gut einstündiger „Werther“-Monlog in einer zwar auf Goethe fußenden, aber ganz heutigen Textfassung, die der Schauspieler und Rottstraße 5 Theater-Prinzipal zusammen mit Regisseur Hans Dreher erarbeitet hat, entspricht in seiner sprachlichen und szenisch umgesetzten Radikalität ganz der 1774 noch anonym erschienenen Urfassung, die erst 1907 vom Insel-Verlag in einem Faksimiledruck wieder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden ist.
Goethe hat anlässlich einer von der Weygandschen Buchhandlung geplanten Jubiläumsausgabe am 3. Juli 1824 an seinen Verleger folgende Zeilen schreiben wollen (das Briefkonzept ist im Nachlass aufgefunden worden): „Der erste Abdruck in seiner heftigen Unbedingtheit ists eigentlich der die große Wirkung hervorgebracht hat; ich will die nachfolgenden Ausgaben nicht schelten aber sie sind schon durch äußere Einflüsse gemildert geregelt und haben denn doch nicht jenes frische unmittelbare Leben; dem Verleger selbst müsste es von großem Vortheil seyn denn kaum ist noch jemand unter den Lebendigen, der jenen Abdruck gesehen hätte. Jedermann der auch den späteren Werther besitzt würde den früheren zu besitzen sich genöthigt sehen (...).“
Aufführungstermine unter www.rottstr5-theater.de, Karten unter Tel. 0163/7615071.
Pitt Herrmann
Hans Dreher und Arne Nobel nach Johann Wolfgang von Goethe
Werther – Tod. Schmerz. Liebe.
Rottstraße 5 Theater Bochum