„Ich geh’ mit Dir wohin Du willst, auch bis ans Ende dieser Welt...“: Zum Nena-Loop ein Traum von XXL-Hochzeitskleid vor der nüchternen Kulisse der Überland-Stromleitungen: Das Leben ist, wenn überhaupt, nur kurzzeitig die Erfüllung eines Traumes, gleich der Ouvertüre einer Oper oder, wie hier, dem Prolog eines sehr geerdeten Schauspiels. Das vor allem von den großen Gefühlen und Illusionen seiner vier Protagonisten lebt, die Bibi Abel in ihren Videos noch überhöht.
Jeden Morgen fährt Paul mit Boxer, der eigentlich Jakob heißt, aber in der Bochumer Inszenierung von Heike M. Götze nicht nur seiner bandagierten Hände wegen, denen nur noch die Kampfhandschuhe fehlen, wie ein solcher aussieht, und Schorse zur Arbeit. Letzterer heißt eigentlich Georg und ihm gehört der klapprige dunkelblaue Ford Escort, der schon lange keine Werkstatt-Inspektion mehr gesehen hat.
Wenn die drei in besagtem Auto sitzen, so tun sie das, in der Opel-Stadt Bochum, nicht in einem Oldtimer-Modell aus Kölner Produktion, obwohl die Requisite ein solches zunächst bereitgestellt hatte. Sondern in Flugzeug-Sitzen, die auf einem kleinen Holzpodest mit vier Rädern montiert sind, das, wenn es in Bewegung gerät, typische Eisenbahngeräusche der Schienen-Schwellen verursacht. Die in Osnabrück geborene und heute vor allem in der Schweiz lebende und arbeitende Regisseurin versteht sich auf die Klaviatur theatralischer Mittel.
Schorse , mit 42 Jahren bei weitem der Älteste des Trios, ist von der Zeitarbeitsfirma zusammen mit dem 28jährigen Boxer zum Bierkastenstapeln in den Getränkemarkt von Pauls Vater geschickt worden. Er braucht jeden Cent, seit ihn seine Frau Karin vor die Tür gesetzt hat, weil er mit seinem kleinen Sohn Phillip nach dem Besuch eines Konzerts erst am anderen Morgen nach Hause gekommen ist. Ach was Konzert, AC/DC ist ’ne Weltanschauung, wenn auch nur von einer Coverband gerockt.
Jeden Morgen also fährt Paul mit Boxer, der davon träumt, ’mal auf der Route 66 quer durch die USA zu fahren, und Schorse im dunkelblauen Ford Escort zur Arbeit, AC/DC dröhnt aus den Lautsprechern, „hammerlaut“ versteht sich. Und jeden Morgen schwitzt Paul, mit 22 Jahren freilich nur biologisch der Jüngste, Blut und Wasser, dass Schorse auf Kurs bleibt – und zum Getränkemarkt einbiegt. Denn Paul hat nur ein Ziel: Seine Lehre beenden und dann nichts wie weg. Vielleicht Abitur machen. Für Flausen im Kopf sind die beiden anderen zuständig.
Eines Morgens biegt Schorse nicht zum Getränkemarkt ein sondern fährt bei Karin vor. Er will seinen Sohn sehen, mit ihm einem Ausflug unternehmen, wenn seine Kohle und die der Kumpels schon nicht für Phillips größten Wunsch, die Lego-Western-Stadt, reicht. Aber seine „Ex“, die sich schon lange keinen Illusionen hingibt, Schorse könne jemals irgendetwas auf die Reihe kriegen, macht dicht.
Da liest Schorse den Kleinen kurzerhand auf dem Schulweg auf – und ab geht’s durch die Mansfelder Prärie in Richtung Norden: Legostadt war gestern, das neue Ziel heißt Legoland und da wird’s sicherlich auch einen Western-Saloon geben...
Zwar ist dieser, so viel darf vorweggenommen werden, naturgemäß zum Scheitern verurteilte Versuch, der Tristesse von Arbeits- und Aussichtslosigkeit zu entkommen, in Mitteldeutschland angesiedelt. Dass diese geographische Disposition aber im Grunde keine Rolle spielt, wissen viele Herner, die seit der Wende ihre Partnerstadt Eisleben besucht haben, aus eigener Anschauung: Die Strukturprobleme des Mansfelder Landes unterscheiden sich von denen des Ruhrgebietes nur marginal.
In ihrem Versuch, der Inszenierung jeden Realismus auszutreiben, der zu Beginn kurz angedeutet und sogleich ironisch gebrochen wird durch die drei vorn an der Rampe in Bierkästen posierenden Helden der Arbeit, ist die Regisseurin freilich weit über das Ziel hinaus geschossen. Heike M. Götze führt die (Rand-) Figuren Boxer und Paul geradezu vor, indem Raiko Küster stets im Sportleroutfit mit nacktem Oberkörper und bandagierten Händen herumlaufen muss und der bedauernswerte Krunoslav Sebrek gar in einem furchterregenden Ganzkörper-Fatsuit.
Im Schatten solcher Grotesken haben es Bettina Engelhardt und der überragende Henrik Schubert als Karin und Schorse schwer, sich zu behaupten, zumal auch ihnen ein freilich immer wieder grandiose Bilder hervorbringendes Körpertheater abverlangt wird. Dennoch sind sie es, die Dirk Lauckes Stück binnen wie im Fluge vorübergehender neunzig Minuten emotionalen Halt geben. Und damit dem Gehalt des sich zwar auch, aber nicht nur durch die direkte, verknappte und immer wieder skurrile Sprache („Riechtulke“ für Nase) definierenden Stücks gerecht werden.
„Alter Ford Escort Dunkelblau“ ist der sogleich mit dem Kleist-Förderpreis ausgezeichnete Dramen-Erstling des 1982 im sächsischen Schkeuditz geborenen Dirk Laucke, der 2007, im Jahr der Osnabrücker Uraufführung, von den Kritikern in der „Theater heute“-Umfrage zum „Nachwuchsdramatiker des Jahres“ gewählt wurde. Es ist nicht bei diesem einen road-play über die soziale Misere der neuen deutschen Bundesländer, über Sehnsüchte und Fluchtversuche geblieben, das Staatsschauspiel Dresden wird am 10. Juni mit „Alles Opfer! Oder: Grenzenlose Heiterkeit“ ein Stück über eine fröhliche Kaffeefahrt von Arbeitslosen und Rentnern nach Tschechien, die im Straßengraben endet, bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen uraufführen. Weshalb Dirk Laucke sein ursprünglich für Bochum vorgesehenes Stück „Jimi Bowatski hat kein Schamgefühl“ nicht rechtzeitig fertig stellen konnte, es soll aber noch an der „Kö“ herausgebracht werden, nach der Vorstellung des Spielplans für die kommende Saison am 12. Mai wissen wir mehr.
Pitt Herrmann
Dirk Laucke
Alter Ford Escort Dunkelblau
Schauspielhaus Bochum, Kammerspiele