Es wird momentan viel darüber diskutiert, wie wir in Deutschland mit dem Thema Integration umgehen sollen. Es gibt hitzige Debatten über die wohl eklatanten Folgen einer Gastarbeiterkultur, deren Kinder heute deutsche Senioren niederschlagen, Ehrenmorde begehen oder einfach nur asozial abhängen. Multikulti ist anscheinend tot, und im Vordergrund steht logischerweise das, was nicht funktioniert. "Almanya - Willkommen in Deutschland" erinnert daran, dass Gastarbeiter damals von der deutschen Regierung gerufen wurden und dass sie maßgeblich zur wirtschaftlichen Stabilität dieses Landes beigetragen haben, dass sie eine Berechtigung haben, hier zu sein. "Almanya - Willkommen in Deutschland" sagt: Wir sind hier und das ist auch gut so!
Nesrin Samdereli
Als der sechsjährige Cenk Yilmaz (den Multikulti-Cast bereichert mit Rafael Koussouris ein 2002 in München geborener Deutsch-Grieche), der Sohn einer Deutschen und eines Türken, in der "Weltstadt mit Herz" eingeschult wird, begreift er schlagartig, dass er "anders" ist. Denn der Heimatort seiner Vorfahren findet sich nicht auf der Europakarte, welche die Lehrerin (Jule Ronstedt) im Klassenzimmer aufgehängt hat. Und im Sportunterricht wird der kleine Cenk weder in die deutsche noch in die türkische Fußballmannschaft gewählt. Einerseits ist er "made in Germany" und besitzt wie seine Eltern die deutsche Staatsbürgerschaft, gehört aber, wie schon sein Name sagt, der türkischen Großfamilie Yilmaz an. Andererseits spricht er nur Deutsch und ist noch nie in der Türkei gewesen.
Zum ersten Mal stellt sich für Cenk die Frage, wer oder was er eigentlich ist, Deutscher oder Türke? Er reicht sie an seinen Großvater weiter, als sich die Familie abends versammelt. Seine ältere Cousine Canan (Aylin Tezel) hat zwar ganz andere Probleme, weil sie von ihrem britischen Freund David (Trystan Pütter), von dessen Existenz noch niemand weiß, ein Kind erwartet. Doch die 22-Jährige beginnt aus dem Leben ihres Großvaters Hüseyin Yilmaz (Vedat Erincin) zu erzählen, der vor 45 Jahren als Gastarbeiter aus der Türkei nach Deutschland kam - und der nun, als unumstrittenes Familienoberhaupt, für die Seinen eine große Überraschung parat hat...
Auf diese Weise erfährt nicht nur der kleine Cenk, wie es dem jungen Bauarbeiter Hüseyin (Fahri Yaardim) in den Sechziger Jahren gelungen ist, die schöne Fatma (Demet Gül), seine spätere Gattin, zu erobern und eine rasch wachsende Familie zu gründen. Nachdem Veli (Aykut Kayacik), Muhamed (Ercan Karacayli) und Leyla (Siir Eloglu) zur Welt gekommen sind, reicht es bald vorn und hinten nicht mehr, weshalb Hüseyin dem Ruf des Geldes nach Deutschland folgt. Wo er im Straßenbau eine zwar harte, aber so gut bezahlte Arbeit findet, dass er bald seine Familie nach "Almanya" nachkommen lassen kann.
Nach fast vierzig Jahren in München haben Hüseyin und Fatma (inzwischen Lilay Huser) deutsche Pässe beantragt. Und doch treibt den Clan-Chef, der als 1.000.001. Gastarbeiter von Angela Merkel zu einem Festakt nach Berlin eingeladen ist, auf dem er auch noch eine Rede halten soll, immer noch die anatolische Heimat um: Er hat heimlich ein Haus in seinem Dorf Erzincan gekauft, als Sommerwohnsitz, wie er die darob entgeisterte Gattin Fatma beruhigt, und erwartet nun von sämtlichen Clan-Mitgliedern, ihn in den Ferien in die Türkei zu begleiten, um das neue Domizil in Augenschein zu nehmen und gegebenenfalls zu renovieren.
Auf der langen Reise hält Canan den kleinen Cenk bei Laune, indem sie ihm die Familiengeschichte weitererzählt: Wie sich Fatma und die Kinder ohne Deutschkenntnisse in ihrer neuen Umgebung zurechtfinden mussten, wie die Familie in eine große Wohnung einziehen konnte, wie sie sich über die merkwürdigen Deutschen und ihre Sitten und Bräuche wunderten, wie Cenks Vater Ali (Denis Moschitto) in Deutschland geboren wurde. Und wie bei einem viele Jahre zurückliegenden ersten Türkei-Besuch Hüseyin, Fatma und ihre Kinder erstaunt festgestellt haben, dass sie sich von ihren türkischen Freunden und Verwandten solchermaßen entfremdet hatten, dass sie beschlossen, für immer in Deutschland zu bleiben...
Die also gleich in mehrfacher Hinsicht in die Vergangenheit führende Reise der Großfamilie Yilmaz führt zu einem ungeahnten Ende...
"Wir riefen Arbeitskräfte, es kamen Menschen": Die Samdereli-Schwestern ("Türkisch für Anfänger") haben diese Wahrheit des Schweizer Schriftstellers Max Frisch bewusst nicht als Motto an den Anfang ihres ersten Kinofilms "Almanya - Willkommen in Deutschland" gestellt, sondern als Epilog zu Beginn des Abspanns. Denn erst haben sie, gerade auch dem deutschen Publikum, eine Geschichte erzählen wollen, die auch ihre eigene ist: Nesrin, Jahrgang 1979, und Yasemin Samdereli, Jahrgang 1973, sind gebürtige Dortmunderinnen und haben vieles selbst erlebt, was sie in ihrem Leinwand-Debüt auf so humorvolle Weise und mit großem Einfühlungsvermögen schildern, so die Sehnsucht nach einem typischen deutschen Weihnachtsfest mit Lametta am Tannenbaum und Geschenken darunter.
In "Almanya" schlagen Nesrin und Yasemin Sandereli einen Bogen von den 60er Jahren des Wirtschaftswunders bis heute und vom Orient zum Okzident. Sie blättern sozusagen ihr Familienalbum auf und halten dabei Türken wie Deutschen auf sehr lustvoll-ironische Weise einen Spiegel vor. Was vor allem durch einen dramaturgischen Kniff geschieht, den sie sich bei Charlie Chaplin und dessen Satire "Der große Diktator" abgeguckt haben: die Kunstsprache "Jibberisch". Dieses von den Deutschen der 60er Jahre gesprochene Kauderwelsch wird als Stilmittel benutzt, um zu erreichen, dass sich deutsche Zuschauer genau so fühlen wie seinerzeit die türkischen Gastarbeiter, die sich völlig irritiert, nicht nur mit einer ganz anderen Kultur (Jesus am Kreuz, Abendmahl mit Brot und Wein als Symbole seines Fleisches und Blutes) sondern auch mit einer neuen Sprache auseinandersetzen mussten.
Den Samdereli-Schwestern ist das in ihrem Leben bestens geglückt, was die enorme Lockerheit des bei der Berlinale-Premiere mit Ovationen gefeierten Films und den Blick der Filmemacherinnen von außen erklärt: Yasemin, die Müsli und deutschen Kuchen besonders liebt, hat Querflöte in einem Spielmannszug gespielt, Nesrin, die für Erbsensuppe schwärmt, ist Funkenmariechen gewesen und hat nicht nur eine katholische Grundschule besucht, sondern auch mittwochs im Gottesdienst die Kirchenlieder mit Inbrunst mitgesungen.
Für die zahlreichen Cameo-Auftritte konnten sie jede Menge Prominenz gewinnen: Axel Milberg spielt den deutschen Beamten der Einwanderungsbehörde, der in einer Traumsequenz Hüseyins Schweinsbraten serviert, bevor er die Dokumente zum Erwerb des deutschen Passes stempelt. Katharina Thalbach gibt die kinder- und ausländerfeindliche "Wilmersdorfer Witwe" in einem Münchner Omnibus, Walter Sittler einen entgeisterten Krämer im Angesicht der frisch aus Anatolien gekommenen Fatma, die bei ihm Brot und Milch kaufen will ohne ein Wort Deutsch zu sprechen, Oliver Nägele einen schwadronnierenden Politiker und Aglaia Szyszkowitz eine Ärztin.
"Almanya" sollte übrigens in Dortmund gedreht werden, woraus aber aufgrund der Schlafmützigkeit der Düsseldorfer Filmförderer nichts geworden ist - die Münchner haben die Ko-Finanzierung übernommen. Und werden es nicht bereuen: "Almanya" hat das Zeug zum Kassenschlager, wenn die türkische Community ihre Schwellenangst überwindet.
Pitt Herrmann
Nesrin Samdereli (Buch), Yasemin Samdereli (Buch und Regie)
Almanya - Willkommen in Deutschland
Roxy Film, Andreas Richter/Ursula Woerner/Annie Brunner Prod. c/o Infa Film - Deutschland 2010