Die 14jährige Schülerin Wendla Bergmann (Mareike Hein) erwartet ein Kind vom gleichaltrigen Klassenkameraden Melchior Gabor (Pascal Riedel) - zum Entsetzen nicht nur der Mutter (Sonja Baum). Diese schickt ihre Tochter zur Engelmacherin, was Wendla nicht überlebt und Melchior ("Ich bin ihr Mörder!") verzweifeln läßt. Moritz Stiefel (Philipp Weigand) dagegen bringt sich gleich selbst um, und das nicht nur, weil er die Versetzung nicht geschafft hat...
"Ich glaube, daß das Stück um so ergreifender wirkt, je harmloser, je sonniger, je lachender es gespielt wird": Frank Wedekinds 1890/91 verfaßtes und im Untertitel "Eine Kindertragödie" genanntes Pubertäts-Drama im 19 Szenen war ein Skandalon, die gedruckte Fassung stand unter Pornographie-Verdacht. "Frühlings Erwachen" war so brisant, daß es erst Ende 1906 von Max Reinhardt in den Berliner Kammerspielen uraufgeführt werden konnte - mit dem Autor als Alter-Ego-Figur "Vermummter Herr".
Diese ist in Annette Pullens Bochumer Neuinszenierung, Premiere war am 4. Dezember 2009 in den Kammerspielen, ebenso dem Rotstift zum Opfer gefallen wie beinahe das halbe Figurenarsenal einschließlich durchaus bedeutender Nebenfiguren wie Melchior Gabors Mutter, konstuierend ihr nun völlig unterschlagenes "Verhältnis" zu Moritz Stiefel für die Selbsttötung des Verzweifelten.
Auch von Wedekinds Text ist kaum mehr als die Häfte übriggeblieben. Weil halt auch viel Wasser die Ruhr hinuntergeflossen ist seither und eine schwangere Vierzehnjährige, so die These des Dramaturgen Christopher Hanf, der zusammen mit der Regisseurin die "Bochumer Fassung" erstellt hat, nicht mehr das Problem ist. Ebenso wenig wie Melchiors Aufklärungsschrift "Der Beischlaf", die nach Auffassung des ebenfalls versenkten Lehrerkollegiums Schuld an Moritz' Selbstmord ist, weshalb der Sohn eines liberalen Alt-68er-Vaters (Klaus Lehmann) auch nicht in die Erziehungsanstalt gesteckt wird.
So zählen weder Wendla Bergmann noch Moritz Stiefel am Ende zu den Mittwanzigern, die im weißen Totenhemdchen an der Rampe von einem Leben auf festen, also toten Gleisen erzählen: Thea (Vanessa Mecke), Ernst Röbel (Patrick Berg), Ilse (Linda Pöppel), Hänschen Rilow (Holger Spengler) und Martha Bessel (Rahel Juliane Weiss). Unter all' diesen Zombies machen sich die beiden Toten sehr lebendig aus.
Nur noch getoppt vom attraktiven Melchior im so optimistisch-blauen wie flott-eleganten Samt-Sakko: Den Rat seines Vaters, das Leben zu genießen, hat er im Verhältnis 1:1 umgesetzt. Und naturgemäß gar keine Gewissensbisse, Wendla damals auch zur Abtreibung geraten zu haben. Was braucht es da einen "Vermummten Herrn"?
Ja, braucht es überhaupt einen Frank Wedekind, um das Lebensgefühl heutiger Jugendlicher zwischen Vereinzelung und Anpassungsbereitschaft, Depression und Aggression, Melancholie und Euphorie in etwas zu atemlosen einhundert Minuten auf die Bretter zu stellen? Wir Alten, die wir noch die Texte lesen und uns an die Bochumer Vorgänger-Inszenierungen erinnern, entwickeln in der Sicht der Jungen offenbar ganz altmodische Vorstellungen eines literarischen Theaters.
Freilich sind wir auch geprägt etwa durch Peter Zadeks dreieinhalbstündige Bochumer Version 1976 mit Herbert Grönemeyer (Melchior), Elisabeth Stepanek (Wendla), Friedrich-Karl Praetorius (Moritz), Agnes Dünneisen und die Wedekind-Enkelin Carola Regnier, aber durchaus auch durch Volker Schmalöers ganz konträre 90er Inszenierung in der Steckel-Ära mit Martin Feifel (Melchior), Karoline Eichhorn (Wendla) und Rainer Sellien (Moritz).
Wir nehmen uns zurück und konstatieren: Die allein schon ob ihres enormen körperlichen Einsatzes bewunderungswürdigen Bochumer Schauspielschüler begeisterten das Premierenpublikum mit hochexplosivem, geradezu artistischem Actiontheater in ganz heutigen Spaßgesellschafts-Outfits (Bettina Schürmann) auf der Spielwiese eines flexiblen Bühnenbodens (Jörg Kiefel).
Pitt Herrmann
Anmerkungen von Christopher Hanf, Dramaturg am Schauspielhaus Bochum
Sehr geehrter lieber Pitt Herrmann,
es ist gut, richtig und Ihre Aufgabe, in einer Theater-Kritik Position zu beziehen und darüber zu schreiben, was Sie an einer Inszenierung für gelungen und weniger gelungen halten. Das tun Sie auch auf durchaus differenzierte Weise in Ihrer Besprechung zu unserer Inszenierung von "Frühlings Erwachen". Diese Ihre Einschätzung verdient Respekt.
An zwei Punkten möchte ich aber doch kurz einhaken. Mir ist nicht klar, wie Sie darauf kommen, ich würde die These vertreten, eine "schwangere Vierzehnjährige" sei "nicht mehr das "Problem". Eine solche These steht mir privat genauso wie als Dramaturg unserer Produktion vollkommen fern. Ganz im Gegenteil glaube ich, dass eine schwangere Vierzehnjährige heute wie zu Wedekinds Zeiten in einer extrem schwierigen, problematischen Situation ist, in einer Situation, die in unserer Inszenierung sogar zur Tragödie wird. Dort rennt Wendla mit voller Wucht mit ihrem schwangeren Bauch gegen die Wand (der Versuch eines Theaterbildes für eine Abtreibung, das man für gelungen halten kann oder auch nicht) und tötet sich dabei selbst, weil ihre Mutter und ihr Freund sie in dieser existentiellen Situation im Stich lassen. Die Mutter tut das - anders als bei Wedekind - in unserer Fassung vor allem deshalb, weil das Mädchen sich sonst ihre beruflichen Perspektiven verbaut. Bei Wedekind bestimmen vor allem Verklemmtheit und Angst vor dem gesellschaftlichen Skandal das Verhalten der Mutter.
Welche These ich hingegen vertrete, ist die, dass der Glaube an den Klapperstorch heute kein relevantes Problem mehr darstellt. Außerdem ist die Figur der Frau Gabor bei uns nicht "dem Rotstift zum Opfer" gefallen, wir haben ihre Texte fast gänzlich erhalten, sie werden bei uns nur von "Herrn Gabor" gesprochen. Es erschien uns sinnvoll, für die Elterninstanz in der Inszenierung eine Frau und einen Mann vorkommen zu lassen, eine Mutter und einen Vater, die sich auf unterschiedliche Weise problematisch verhalten in ihrem Umgang mit ihren Kindern. Das sind bei uns Frau Bergmann und Herr Gabor. Dass das fehlende Verständnis und die fehlende Hilfsbereitschaft von Frau Gabor (bei uns Herrn Gabor) ein weiterer Grund für Moritz sind, sich das Leben zu nehmen, haben wir versucht zu erzählen: Der Brief von Frau Gabor kommt fast ungekürzt und unverändert vor (bei uns gesprochen von unserem "Herrn Gabor").
Frank Wedekind
Frühlings Erwachen
Schauspielhaus Bochum, Kammerspiele c/o Folkwang Hochschule Essen, Studiengang Schauspiel Bochum