Aber dieses "Die Hölle, das sind die andern" ist immer falsch verstanden worden. Man glaubte, ich wolle damit sagen, dass unsere Beziehungen zu andren immer vergiftet sind, dass es immer teuflische Beziehungen sind. Es ist aber etwas ganz andres, was ich sagen will. Ich will sagen, wenn die Beziehungen zu andern verquer, vertrackt sind, dann kann der andre nur die Hölle sein. Warum? Weil die andren im Grunde das Wichtigste in uns selbst sind für unsere eigene Kenntnis von uns selbst. Wenn wir über uns nachdenken, wenn wir versuchen, uns zu erkennen, benutzen wir im Grunde Kenntnisse, die die andern über uns schon haben. Wir beurteilen uns mit den Mitteln, die die andern haben, uns zu unserer Beurteilung gegeben haben. Was ich auch über mich sage, immer spielt das Urteil andrer hinein. Was ich auch in mir fühle, das Urteil andrer spielt hinein. Das bedeutet, wenn meine Beziehungen schlecht sind, begebe ich mich in die totale Abhängigkeit von andren. Und dann bin ich tatsächlich in der Hölle.
Jean-Paul Sartre: Gesprochenes Vorwort zur Schallplattenaufnahme der Deutschen Grammophon-Gesellschaft 1965
In einer abstrakten, aus lauter weiß lackierten spitzen Dreiecken bestehenden Bühnenlandschaft, die wie Caspar David Friedrichs sich auftürmende Eisschollen in seinem 1823/1824 entstandenen Gemälde "Das Eismeer" Kälte und Gefahr zugleich ausstrahlen, treffen Joseph Garcin (Matthias Eberle), Inès Serrano (Johanna Eiworth) und Estelle Rigault (Simin Soraya) aufeinander.
Im wirklichen Leben sind sie sich nie begegnet, wissen also auch - noch - nichts voneinander. Hier, an diesem eiskalten Höllen-Ort des Bochumer Theater Unten, umkreisen sie sich argwöhnisch im Bewusstsein, diesem und damit den jeweils anderen nicht entrinnen zu können: "Ein Leben ohne Unterbrechung" konstatiert Garcin, der von den beiden Frauen zunächst als Folterknecht angesehen wird.
Ob der feige Versager und selbsternannte "Schweinehund", der seine Frau betrogen und gequält hat, oder die skrupellose Intrigantin, die am Tod mehrerer Familienangehöriger zumindest mitschuldig ist, sowie die eiskalte Kindesmörderin: alle beteuern ihre Unschuld. Sie spielen jeweils den anderen vor, jemand zu sein, der sie nie waren. Denn, so erkennt Inès: "Der Henker - das ist jeder von uns für die beiden anderen." Und Garcin ergänzt hellsichtig: "Keiner von uns vermag sich allein zu retten; wir müssen uns entweder gemeinsam zugrunde richten, oder uns gemeinsam aus der Affäre ziehen."
Mit "Geschlossene Gesellschaft" von Jean-Paul Sartre hat Frederick Krieger, der Theater- und Sozialwissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum studierte, sein Regiedebüt am Schauspielhaus Bochum gegeben, Premiere war am 25. Januar 2018 im Theater Unten. Im Gegensatz zur 2011er Inszenierung Oliver Paolo Thomas' am Rottstr5Theater hat der gebürtige Warsteiner des Jahrgangs 1990 nicht nur die Rolle des in den ersten vier der fünf Szenen dieses Einakters einführend-moderierenden Kellners gestrichen, sondern besagte Szenen gleich mit.
Amelie Neblichs Bühne negiert den Nebentext des Autors ("Ein Salon im Second-Empire-Stil. Eine Bronzefigur auf dem Kamin") einschließlich des am Ende zentralen Requisits des Papiermessers und lässt das Darsteller-Trio, so Dramaturg Simon Meienreis, "in einem Raum, in dem das Licht immer brennt und der Schlaf niemals kommt", agieren. Von Kerstin Feuerhelm in Plastiksachen verpackt, als seien Garcin, Inès und Estelle gerade dem Seziertisch des Pathologen entkommen.
Matthias Eberle, Johanna Eiworth und Simin Soraya betreten stumm das Theater Unten, schnappen nach Luft wie Fische im zu warmen Wasser und klauben sich die ihre Augen bedeckenden Häute aus dem Gesicht. Eberle und Eiworth bekommen zunächst nur unartikulierte Laute heraus, als Sorayas Estelle bekundet: "Ich habe mir nichts vorzuwerfen." Was Eiworths Inès dazu herausfordert, für sich und die eigene Situation "Alles Super" zu finden und zu behaupten: "Ich bin Spiderman."
Was so natürlich nicht bei Sartre steht, der sein Selbstentblößungs-Drama "Huis Klos" im Herbst 1943 unter dem Titel "Les Autres" ("Die Anderen") für drei Freunde geschrieben hat. Doch die für Südfrankreich geplante Inszenierung von Albert Camus blieb durch die Verhaftung der Protagonistin Olga Barbezat unvollendet, sodass "Geschlossene Gesellschaft" erst am 27. Mai 1944 im Pariser Theatre du Vieux-Colombier uraufgeführt worden ist.
"Ich bin ein Transgender", gibt Johanna Eiworths Inès zum Besten, "ich bin im falschen Körper geboren", weshalb sie sich einen Penis hat modellieren lassen vom Schönheitschirurgen: Auch sonst findet sich in Kriegers gut siebzigminütiger Inszenierung, die auf der 1986 erschienenen Neuübersetzung von Traugott König fußt, viel Unsinniges: offenbar misstraut der Regisseur der Ausstrahlungskraft dieses doch nach wie vor auch ganz ohne Beigaben zeitlos-aktuellen Klassikers der Moderne.
Diese Ausstrahlungskraft hängt natürlich auch von den Darstellern ab. "Bier her - und ich fall um" lässt sich Simin Sorayas Estelle vernehmen, die häufiger die Beleuchterbrücke an der Bühnendecke als Turnstange missbraucht. Und sich so effektvoll in Szene zu setzen weiß - als von beiden anderen Umworbene. Aber nicht nur inszenatorisch mit Oliver Paolo Thomas, sondern auch darstellerisch hat das kleine Rottstr5Theater mit den drei früheren Schauspielhaus-Ensemblemitgliedern Karin Moog, Sonja Baum und Jost Grix ganz klar die Nase vorn.
Die nächsten Vorstellungen: Am 15. und 25. Februar, 16. und 25. März 2018 im Theater Unten, Karten unter schauspielhausbochum.de oder Tel. 0234 - 33 33 55 55.
Pitt Herrmann
Jean-Paul Sartre
Geschlossene Gesellschaft (Huis Klos/Bei geschlossenen Türen)
Schauspielhaus Bochum, Theater Unten