The Humans. Eine amerikanische Familie
Aufgebaut wie ein klassisches Well-made-play ist "The Humans" einerseits eine Komödie mit leichter, schneller Sprache, mit Pointen und Schlagabtäuschen und legt andererseits die Abgründe offen, die die Figuren unter scheinbarer Normalität zu verstecken suchen. Ängste, Verletzungen, Unzulänglichkeiten und Traumata werden unter der Oberfläche spür- und erlebbar.
Annelie Mattheis, Dramaturgin
In der New Yorker Maisonette-Wohnung der jungen Brigid Blake (Karolina Horster) und ihres um einiges älteren Freundes Richard (Michael Kamp) stehen noch unausgepackte Umzugskisten, auch fehlt noch der Großteil des Mobiliars. Sie sind gerade erst zusammengezogen und heilfroh, in dieser Stadt überhaupt ein bezahlbares, wenn auch letztlich arg düsteres Dach über dem Kopf gefunden zu haben.
Aber Thanksgiving steht vor der Tür, da wird traditionell der Truthahn in der Röhre gemeinschaftlich von der ganzen Familie verspeist. Drei Generationen vereinen sich unter diesem noch recht provisorischen Dach: Brigids Eltern, Erik (Bernd Rademacher) und Deidre Blake (Johanna Eiworth), haben trotz Schneefalls die Fahrt von Scranton/Pennsylvania nach New York auf sich genommen.
Die Familie komplettieren Brigids ältere Schwester Aimee (Kristina Peters), die in Philadelphia lebt, sowie die einst aus Irland eingewanderte Mutter Eriks, Fiona (Nina Wurman), die im Rollstuhl sitzende, demenzkranke und daher pflegebedürftige, im Heim lebende "Oma Momo".
Jeder hat sein Päckchen zu tragen, was zusammen ein kaum mehr zu schulterndes Paket ergibt: Erik hat nicht nur seinen Hausmeister-Job verloren, was auch für Oma Momos teuren Heimaufenthalt Konsequenzen haben könnte, sondern auch noch seinen Rentenanspruch, da es sich um eine Privatschule handelt und er fristlos gekündigt worden ist. Weil er seine unter Arthrose, Fressattacken und besserverdienenden jungen Kollegen leidende Gattin mit einer Lehrerin besagter Schule betrogen hat: schiefer könnte der Haussegen nicht hängen.
Erik, der nun in einem Supermarkt jobbt, überspielt seine Verlegenheit damit, dass er alle paar Minuten zum Smartphone greift, um sich über aktuelle American-Football-Ergebnisse zu informieren. Da das Geld hinten und vorne nicht reicht, ist das See-Grundstück für den geplanten kollektiven Altersruhesitz heimlich verkauft worden und das Haus, in dem die Eltern seit Urzeiten wohnen, ist wohl auch nicht mehr zu halten.
"Ich werde durch ein Loch in meinem Bauch scheißen. Wer geht da mit mir aus?": Aimee kommt kaum von der Toilette herunter. Neben der Physis einer chronischen Dickdarmentzündung, die operiert werden muss mit der horriblen Aussicht auf ein Stoma, plagt sie auch die Psyche: zu frisch ist die Trennung von ihrer langjährigen Partnerin, mit der sie über Handy stets in Kontakt zu bleiben versucht und die offenbar neu gebunden ist. Doch damit noch nicht genug: Sie muss sich auch noch einen neuen Job als Anwältin suchen.
Und die Gastgeber? Haben sozusagen ihr letztes Hemd gegeben für den Festtagsbraten, denn Brigid hat ihr langjähriges Kompositionsstudium über Kredite finanziert, die sie mit den geringen Einnahmen aus ihrem Kellnerjob nicht tilgen kann. Und Richard hat mit 38 Jahren immer noch keinen Master-Abschluss als Sozialarbeiter und entsprechend kein Einkommen, da er lange unter Depressionen litt und sein Studium unterbrechen musste...
"The Humans" - eine temporeiche, unterhaltsame Komödie, ein Stimmungsaufheller gar in der dunkelsten Zeit des Jahres, der so richtig die Vorfreude auf das Familien-Fest der Liebe, Weihnachten, weckt? Stephen Karams mit vier Tony Awards unter anderem als "Best Play 2016" ausgezeichnetes Kammerspiel ist alles mögliche, aber das nun wirklich nicht. 2014 von der American Theater Company in Chicago uraufgeführt, bevor es mit großem Erfolg am New Yorker (Off-) Broadway lief, hat Leonard Beck das Sozialdrama über die Auswirkungen der Finanzkrise und die Nachwirkungen der Terroranschläge vom 11. September 2001 am Schauspielhaus Bochum als Europäische Erstaufführung inszeniert in einer Übersetzung von Michael Raab, Premiere war am 9. Dezember 2017.
Viele Bochumer hatten sich zu Saisonbeginn auf das ursprünglich vorgesehene Schauspieler- und Theatermacherpaar Otto Kukla und Crescentia Dünßer gefreut. Beide gehörten in den 1980er Jahren unter Claus Peymann dem Ensemble des Schauspielhauses Bochum an, gingen aber nicht mit dem Intendanten an die Wiener "Burg", sondern zogen ins bayerische Birach aufs Land und gründeten u.a. mit Ulrich Noethen das Zelt-Ensemble-Theater, mit dem sie über mehrere Jahre hinweg in Bochum gastierten.
Nachdem beide zunächst das Zimmertheater Tübingen und danach das Theater Neumarkt in Zürich geleitet haben, arbeiten sie seit 2004 frei - im Theater aber auch für Film und Fernsehen. Mitte November 2017, vier Wochen vor der Premiere, stiegen beide "aus persönlichen Gründen" aus. Für Kukla als Regisseur sprang Leonard Beck ein, Frankfurter des Jahrgangs 1986 und unter Anselm Weber langjähriger Regieassistent. Der 2016 mit Dennis Kellys unter die Haut gehendem Kammerspiel "Waisen" ein fulminantes, heftig umjubeltes Regiedebüt an der Königsallee feierte.
Und für Crescentia Dünßer übernahm kurzfristig Johanna Eiworth die Rolle der Deidre Blake, im vergangenen Herbst mit zahlreichen Kollegen vom Theater Freiburg nach Bochum gekommen, wo sie in Heike M. Götzes "Maria Stuart" sehr frei nach Friedrich Schiller in der Titelrolle einen fulminanten Einstieg feierte. Beiden ist ebenso wenig wie dem überzeugenden Ensemble, aus dem Bernd Rademacher und Kristina Peters in allerdings auch den dankbarsten Rollen herausragen, eine nicht zu leugnende Enttäuschung anzulasten. Die sich vor allem auf das am Anfang sehr geschwätzige, später deutlich spitzzüngig-boshafte, in der massiven Häufung aller erdenklichen Übel jedoch arg konstruiert wirkende Stück bezieht.
Eine Einschätzung, welcher der im übrigen in Scranton aufgewachsene Enddreißiger Stephen Karam, der um sein Geburtsdatum divenhaft ein großes Geheimnis macht, selbst Nahrung gibt, indem er ein Zitat aus dem Bestseller "Denke nach und werde reich. Die 13 Gesetze des Erfolgs" von Napoleon Hill seinem Stück voranstellt, in dem "sechs Hauptarten der Angst" vorgestellt werden, die sich sämtlich in "The Humans" wiederfinden: "Armut, Kritik, Krankheit, Liebesverlust, Alter, Sterben".
Für diese einhundertminütige Aneinanderreihung von Hiobsbotschaften, die alle beiderseits der Rampe die vorweihnachtliche Stimmung so richtig herunterziehen, hat sich offenbar nicht ohne Grund drei Jahre lang kein europäisches Theater interessiert: Armut, Krankheit und die Angst vor gesellschaftlichem Abstieg sind globale Themen, die durch angelsächsische Klassiker wie durch unsere heimische Theaterliteratur ganz anderen Kalibers bereits zur Genüge abgedeckt werden. Leonard Becks Rettungsversuch endet mit lautem Geschrei - und apokalyptischen Videobildern. Frohes Fest!
Pitt Herrmann
Stephen Karam
The Humans. Eine amerikanische Familie (The Humans)
Schauspielhaus Bochum