Mit diesem Film möchte ich gern, soweit das möglich ist, die europäische Blickweise aufbrechen, in Flüchtlingen entweder ausschließlich bedauernswerte Opfer oder nur anmaßende Wirtschaftsimmigranten zu sehen, die in unsere Gesellschaften eindringen, bloß um uns die Jobs zu klauen, unsere Frauen, unsere Häuser und unsere Autos. Das sind Klischees und Vorurteile. In der europäischen Geschichte sind ihre Entstehung und Akzeptanz mit einem unheilvollen Nachhall verbunden. Ich gebe offen zu, dass "Die andere Seite der Hoffnung" bis zu einem gewissen Grad das ist, was man unter einem tendenziösen Film versteht. Es ist ein Film, der ohne Skrupel die Ansichten und Meinungen seiner Zuschauer verändern will, indem er, um dieses Ziel zu erreichen, ihre Gefühle manipuliert. Ein solcher Versuch muss natürlich scheitern. Was aber, so hoffe ich, davon übrig bleiben wird, ist eine integre und etwas melancholische Geschichte, die der Humor vorwärts trägt. Ein ansonsten fast realistischer Film über gewisse menschliche Schicksale in der Welt, in der wir heute leben.
Aki Kaurismäki
Ein "schwarzer" Mann entsteigt dem Kohlenkeller: Khaled (Sherwan Haji), ein junger Mechaniker aus Syrien, gelangt als blinder Passagier eines Kohlefrachters eher zufällig nach Helsinki. In der finnischen Hauptstadt will er Asyl beantragen, freilich ohne große Hoffnung auf die Gewährung, ja generell ohne Erwartungen an seine Zukunft. In der Tat entscheiden die Einwanderungsbehörden, ihn in die Ruinen der vom Bürgerkrieg zerstörten Stadt Aleppo zurückzuschicken - aufgrund einer angeblich verbesserten Sicherheitslage. Eine Behauptung, die von finnischen Fernseh-Nachrichtenbildern von der Bombardierung der einst blühenden Stadt sogleich als Lüge entlarvt wird.
So beschließt Khaled, wie viele seiner Leidensgenossen illegal im Land zu bleiben, muss sich erst mühsam einen Ort suchen, an dem er sich waschen kann. Er lebt nach negativen Erfahrungen in einer spartanisch ausgestatteten Asylunterkunft mit babylonischem Sprachgewirr in den Mehrbettzimmern, auf den Fluren und in der Kantine lieber auf der Straße und sieht sich bald den unterschiedlichsten Formen von Rassismus ausgesetzt, kann sich einmal vor gewalttätigen Schlägern gerade noch in einen Bus retten. Khaled macht aber auch positive Erfahrungen. Mit einem Straßensänger etwa, dem er gleich zu Beginn eine Münze in den Hut geworfen hat, und mit coolen Rock n' Rollern, die ihm mit aufrichtiger Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft begegnen.
Parallel ist auch Waldemar Wikström (Sakari Kuosmanen), die zweite Hauptfigur in Kaurismäkis Film "Die andere Seite der Hoffnung", ein Handelsvertreter für Männerhemden und Krawatten, bereit für einen Neuanfang. Weil es geschäftlich nicht mehr so gut läuft - von daheim gar nicht zu reden. In der Midlife Crisis angekommen, verlässt er seine alkoholabhängige Frau, gibt seinen Job auf. Freilich ist es nicht so einfach, seine Musterware in klingende Münze umzusetzen: der ganzen Branche geht es schlecht, die erste seiner langjährigen Kundinnen, die er anspricht, gibt selbst auf, um sich in Mexiko zur Ruhe zu setzen.
Weshalb Wikström schließlich als letztes Mittel in einem illegalen Spielcasino sein Glück versucht und inmitten distinguierter älterer Herren, die es gewohnt sind, ohne Limit zu zocken, mit einigem Geschick sein Pokerface am Glücksspieltisch einsetzt. Von dem gewonnenen Geld kauft er sich für 25.000 Euro ausgerechnet in der trübsten Gegend Helsinkis das völlig heruntergewirtschaftete Restaurant "The Golden Print" (in der deutschen Fassung "Zum Goldenen Krug"), dem er ohne jede gastronomische Erfahrung zusammen mit dem bisherigen und über die Fähigkeiten ihres neuen Chefs entsprechend höchst skeptischen Personal zu neuem Aufschwung verhelfen will - mit den skurrilsten Ideen ("Fusion-Küche" mit Sardinen aus der Dose und Bier aus der Flasche, "Imperial Sushi" nach Kochbuch-Rezeptur, schließlich Tanzbar mit Liveband), aber stets mit vollem Einsatz.
Die Kellnerin Mirja (Nuppu Koivu), der stets mit einer Kippe im Mund anzutreffende Koch Nyrhinen (Janne Hyytiäinen) und der livrierte Empfangsportier Calamnius (Ilkka Koivula) sind erst recht entgeistert, als - nach vierzig Minuten und damit knapp der Hälfte des rund 100-minütigen Films vereinen sich beide Handlungsstränge - Wikström den jungen Khaled, der über die Türkei abgeschoben werden sollte und den Kopf gerade noch aus der Schlinge ziehen konnte, nachts schlafend im dunklen, zugemüllten Innenhof seines Restaurant vorfindet und ihm erst 'mal eine Mahlzeit und dann ein Bett anbietet.
Vielleicht sieht Wikström etwas von sich selbst in diesem ramponierten, angeschlagenen Jungen, jedenfalls stellt er Khaled als Putzkraft und Tellerwäscher an. Und für einen Moment zeigt sich das Leben für beide von einer sonnigeren Seite. Aber schon ziehen Wolken am Horizont auf...
"Die andere Seite der Hoffnung", Mittelteil der mit "Le Havre" (2011) begonnenen "Hafen-Trilogie" Kaurismäkis, erzählt davon, dass jeder - hier mit finnischem Tango unterlegter - Melancholie ein fast rebellischer Zug der Hoffnung innewohnt. Und zeigt das Leben als Wechselspiel von ständiger Sehnsucht und schwankender Hoffnung, von fast märchenhafter Menschlichkeit und kaltem Realismus. Aki Kaurismäkis Filme sind bekannt für ihren lakonischen, skurrilen und minimalistischen Stil. Seine Helden waren immer die "kleinen Leute": Außenseiter, Arbeiter und Arbeitslose - die Verlierer der Gesellschaft.
Seit "Le Havre" hat der 60-jährige Kaurismäki den Kosmos seiner filmischen "Underdogs" um eine globale Komponente erweitert - um diejenigen, die auf der Flucht sind und jetzt in der sozialen Hierarchie ganz unten stehen. Was auch mit seiner eigenen Geschichte zu tun hat: Der finnische Regisseur ist Spross einer Familie, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus Sankt Petersburg nach Helsinki flüchtete. Der lakonische Stil seiner Filme aber ist zum Glück immer noch der gleiche geblieben: kraftvoll-ausdrucksstarke, immer wieder auch bizarre Bilder bei konservativer Kameraführung (Timo Salminen) auf klassischem 35mm-Material, wortkarge Protagonisten, melancholischer Blues und finnischer Tango.
Mit der Uraufführung am 14. Februar 2017 eröffnete "Die andere Seite der Hoffnung" den Wettbewerb der 67. Berlinale und wurde mit dem Silbernen Bären für die beste Regie ausgezeichnet. Der Film, der am 30. März 2017 in unseren Kinos startete, wurde überdies auf dem Filmfest München 2017 mit dem Friedenspreis des Deutschen Films "Die Brücke" in der Kategorie Regie international ausgezeichnet.
Pitt Herrmann
Aki Kaurismäki (Buch und Regie)
Die andere Seite der Hoffnung (Toivon tuolla puolen/The Other Side of Hope)
Sputnik Oy Helsinki, Aki Kaurismäki Prod. c/o Oy Bufo Ab Helsinki, Pandora Film Köln, ZDF/Arte - Finnland/Deutschland 2017